Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Bis 2003 war der Beitritt der Schweiz zur EU eine Option des Bundesrates. Mit dem Eintritt von SVP-BR Blocher, SP-BR Calmy-Rey und FdP-BR Merz änderte sich die Lage.
Der Beitritt wurde als Option aus dem aussenpolitischen Vokabular gestrichen. Im Bundesrat existierte dafür keine Mehrheit mehr.
In einem letzten Formalakt beerdigte das Parlament 2016 auf Betreiben der SVP das EU-Beitrittsgesuch des Bundesrates aus dem Jahre 1992.
Der von SVP-aBR Blocher in der EWR-Abstimmung 1992 als Lösung für die Schweiz propagierte Bilateralismus gilt heute in Bern als einzige, aber unverzichtbare Option.
Eine knappe Mehrheit der Abstimmenden lehnte 1992 aufgrund der SVP-Opposition den vom Bundesrat vorgeschlagenen Beitritt zum EWR mit 50,3 % Nein ab.
Ab 2009 bezeichnete FdP-BR Burkhalter den Bilateralismus als Königsweg der Schweiz. Die Formel hat sich erhalten und wird gerne in bundesrätlichen Erklärungen zur Europapolitik präsentiert und von Parteien, Medien und Verbänden übernommen.
Die Wirtschaftsverbände lieben die Formel. Sie hilft, den schweizer Sonderweg gegen Angriffe der Rechtsnationalen zu verteidigen.
Weder von den Mitgliedern der Regierung, noch von den Bundesratsparteien wird hinterfragt, ob der Bilateralismus hält, was er verspricht.
Was verspricht der bilaterale Königsweg der schweizer Bevölkerung?
Er verspricht Zugang zum europäischen Binnenmarkt, ohne dass sich die Schweiz – wie ein EU-Mitglied - an die gemeinsamen Binnenmarktregeln halten muss.
Dass der Bundesrat mit diesem Versprechen Illusionen verbreitet, zeigt der irritierende personelle Verschleiss an Staatssekretären aus dem EDA seit 2012 unter den FdP-BR Burkhalter und FdP-BR Cassis.
Die Landesregierung hat für das EU-Dossier seit 2012 in Folge fünf Staatssekretäre aus dem EDA als Chefunterhändler ernannt, im vergeblichen Bemühen, das bundesrätliche Versprechen umzusetzen:
Die durchschnittliche Aktivitätsdauer schwankt um zwei Jahre.
Bei jeder Neuernennung hiess es, jetzt sei die Person gefunden, welche das schweizerische Verständnis des Bilateralismus in Brüssel erfolgreich durchsetzen werde. Was aus Berner Optik heisst: Binnenmarkt-Rechte ja, Binnenmarkt-Pflichten nein.
Keiner konnte das bundesrätliche Versprechen erfüllen. Über Herrn Balzaretti wird kolportiert, er habe das Rahmenabkommen ohne Vollmacht des Bundesrates abgeschlossen. Eher unwahrscheinlich. Wäre es so, hätte er im November 2018 sofort den Stuhl räumen müssen.
Die Staatssekretäre wurden auf politischen Druck hin abgesetzt und den Medien als Sündenböcke präsentiert. Ein notwendiges Opfer, um sich selbst aus der politischen Verantwortung zu nehmen.
Der Bundesrat müsste sich die Frage stellen, ob die nach Brüssel entsandten Chefunterhändler, die Crème de la Crème der schweizer Diplomatie, untauglich waren oder ob seinem bilateralen Versprechen der Realitätsbezug fehlt.
Da die letztere Frage tabu ist, bleibt es bei den Sündenböcken.
Intern ist die Einsicht in die Realität bei der Mehrheit des Bundesrates vermutlich seit langem vorhanden. Beim Beobachten des Brexits der Tory-Regierung dürfte sie noch gewachsen sein.
Der Mut, öffentlich zur einer realistischen, kooperativen Europapolitik mit geteilter Souveränität im Europarecht zu stehen, fehlt.
Mit illusionären Versprechen in die Sackgasse reinzufahren ist in der Politik populär, aus ihr raus zu kommen ist schwierig und vor allem unpopulär.
Realität heisst: Teilnahme am gemeinsamen europäischen Binnenmarkt ist nur unter Einhaltung der gemeinsamen Binnenmarktregeln möglich. Und: Binnenmarkt-Rechte ohne Binnenmarkt-Pflichten gibt es nicht.
Weshalb sollte die EU einem Nicht-Mitglied Rechte im Binnenmarkt ohne Pflichten zugestehen? Die Gemeinschaft würde die eigene Grundlage untergraben.
Eine CH-Diplomatie, welche die Teilnahmekonditionen einer bestehenden multilateralen Organisation als inexistent betrachtet, kann keinen Erfolg haben.
An den gemeinsamen Binnenmarktregeln, die alle Binnenmarktbeteiligten einhalten müssen, führt kein Königsweg vorbei.
Wenn der Bundesrat seiner europapolitischen Strategie vier Staatssekretäre opfert, signalisiert er der EU-Kommission die Schwäche seiner Verhandlungsposition.
Kein kluges Vorgehen, um die schweizerischen Interessen in Brüssel zu verteidigen.
Die vom Bundesrat der Bevölkerung versprochene fünfte Option, Binnenmarktbeteiligung als Nicht-Mitglied, ohne Pflicht, fremdbestimmte Binnenmarktregeln einzuhalten, existiert nicht.
Die Option 1 liegt auf dem Sterbebett. Der Bundesrat hat den von ihm nach Brüssel entsandten und bevollmächtigten Staatssekretär Balzaretti im Dezember 2018 desavouiert und sein für die Schweiz erzieltes Verhandlungsergebnis für inakzeptabel erklärt.
Ob die neue Staatssekretärin Leu – jetzt, zwei Jahre später - den Scherbenhaufen flicken kann, steht in den Sternen. In Brüssel weiss niemand, ob sie nach einem Handschlag von der schweizer Regierung auch wieder desavouiert wird.
Dass sich kein Mitglied des Bundesrats selbst an die Verhandlungsfront begeben will, spricht Bände, und ist jedenfalls nicht vertrauensbildend.
Die Schweiz ist unter der Option 1 in den Gremien, welche die europäischen Gesetze erlassen und anwenden (EU-Parlament, EU-Rat, EU-Kommission, EuGH), nicht vertreten und wird dort auch nicht angehört. Trotzdem muss sie europäische Gesetze einhalten.
Die Option 2 hat der Bundesrat vor 17 Jahren – ohne Not – für ausgeschlossen erklärt und daran bis heute festgehalten. Konsequenz dieser amtlichen Vorgabe der politischen Führung ist die mehrheitlich anti-europäische Stimmung in der Schweiz.
Die 3. Option (Schwexit) haben die einheimischen Rechtsnationalen bereits zwei Mal mit Initiativen dem Stimmvolk zur Annahme empfohlen. Beide Male sind sie an der Urne gescheitert.
Die Mehrheit der aktuellen Landesregierung wird voraussichtlich die Option 4 wählen. Sie löst bei Rechtsnationalen und Gewerkschaften die geringste Opposition aus.
Die schleichende Erosion der Binnenmarktbeteiligung wird in Kauf genommen. Wichtiger ist der Mehrheit des Bundesrats, dass so eine öffentliche Auseinandersetzung über die Konsequenzen des Bilateralismus vermieden werden kann.
Der Bundesrat wird den unilateralen Nachvollzug des EU-Rechts auf dem Verwaltungsweg forcieren wollen. Damit verknüpft ist seine Erwartung, die EU-Kommission werde der Schweiz die Äquivalenz laufend bestätigen. Diese Erwartung könnte enttäuscht werden. Das zeigen die Brexit-Verhandlungen.
Folge der Option 4 ist eine laufende Erosion der schweizerischen Souveränität, die anders als bei der Option 2 durch keine geteilte Souveränität auf europäischer Ebene aufgewogen wird.
Mit der Option 4 gefährdet der Bundesrat zum einen die Beteiligung der Schweiz am europäischen Binnenmarkt und nimmt zum zweiten einen laufenden Souveränitätsabbau in Kauf.
Kurzfristig auf der Plusseite des Bundesrats steht eine Beruhigung der Europagegner in der Schweiz.
Das Rahmenabkommen besagt, dass die Schweiz als Nicht-Mitglied die Binnenmarktregeln einhalten muss, wenn und solange sie sich über den CH-Bilateralismus am europäischen Binnenmarkt beteiligen will.
In der aktuellen Debatte werden von Kantonen, Parteien, Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften drei Regeln des europäischen Binnenmarktrechts abgelehnt:
Ablehnung der Wettbewerbsneutralität (level playing field)
Die Kantone wollen an selektiven Steuervorteilen, Subventionen, staatlichen Garantien und administrativen Vergünstigungen zugunsten einzelner, von der Kantonsregierung ausgewählten Unternehmen aus protektionistischen Gründen festhalten.
Ablehnung der Nichtdiskriminierung bei Dienstleistungen
Gewerbe und Gewerkschaften wollen für grenznahe EU-Handwerksbetriebe hohe administrative Hürden beibehalten, die für schweizer Handwerker nicht gelten, um die ungeliebte Konkurrenz vom schweizer Markt fernzuhalten.
Ablehnung der Nichtdiskriminierung in der Personenfreizügigkeit
Parteien und Kantone wollen EU-Bürgern, die rechtmässig in der Schweiz ihren Aufenthalt haben, entgegen der Binnenmarktregel, auch nach 5 Jahren aus finanziellen Gründen den Zugang zu Sozialleistungen verweigern.
Wettbewerbsneutralität und Nicht-Diskriminierung sind zentrale EU-Regeln, ohne die der europäische Binnenmarkt nicht funktionieren kann. Wer das nicht akzeptieren will, sollte die Option Schwexit wählen.
Das Problem: trotz grosser Anstrengungen und viel Geld der einheimischen Rechtsnationalen hat das Volk die Option 3 (Schwexit) wiederholt abgelehnt.
Volksabstimmungen in der Europafrage werden seit 30 Jahren von Bundesrat, Parteien und Verbänden emotional und nicht rational geführt.
Der Bundesrat hatte bis 2003 die EU als positive Erscheinung kommuniziert, danach hat er sie für die Schweiz emotional negativ bis feindlich bewertet und den ewigen Bilateralismus propagiert.
Dass in Volksabstimmungen die langjährig amtlich gepflegte, emotionale und negativ geladene Bewertung der EU zum Tragen kommt, verwundert nicht.
Diese Kommunikationsstrategie rächt sich, wenn man – wie jetzt mit dem Rahmenabkommen - in der Sackgasse steckt und sich eine rationale Beurteilung wünscht.
Die Schweiz hat unter dem Bilateralismus nichts zu den europäischen Binnenmarktregeln zu sagen. Das ist unerfreulich, wird aber von Bundesrat und Wirtschaftsverbänden bewusst akzeptiert, aber nicht kommuniziert.
Wie kann man das glaubwürdig als Königsweg deklarieren?
Bundesratsparteien und Medien verübeln den gescheiterten vier Staatssekretären, dass sie der Schweiz keinen Binnenmarktzugang ohne Pflichten verschafft haben. Jetzt setzen sie ihre Hoffnungen in die fünfte, neu ernannte Staatssekretärin – wahrscheinlich vergeblich.
Besser wäre es die Tabus und Sprechverbote zu beseitigen und den CH-Bilateralismus realitätsbezogen und pragmatisch auf Vor- und Nachteile abzuklopfen. Das Ergebnis sollte der Beitritts-Option einerseits und der Schwexit-Option anderseits gegenüber gestellt werden.
Danach kann die Bevölkerung entscheiden.
Davon ist der aktuelle europapolitische Mainstream weit entfernt. Lieber werden Tabus, Mythen, Illusionen, Sündenböcke und Feindbilder propagiert.
Der Bundesrat studiert in erster Linie, wem er in Zukunft den Schwarzen Peter abgeben kann. Die Lösung, Staatssekretäre zu entlassen, hat sich erschöpft.
Der Bevölkerung und der Zukunft der Schweiz in Europa tut man damit keinen Dienst.
14.10.2020