Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Sicherheitspolitik
nach dem russischen Überfall auf die Ukraine

Zeitenwende

Schweden und Finnland, die bisher eine Neutralitätspolitik verfolgten, sind der NATO beigetreten. Grund ist der Überfall Putins auf die Ukraine am 24. Februar 2022.

Der russische Diktator setzte an diesem Tag über 100‘000 Mann, Raketen, Kampflugzeuge, Bomben und Panzer gegen die Ukraine in Marsch.

Mit dem Beitritt Finnlands hat sich die NATO-Grenze zu Russland um 1340 km verlängert. Die Ostsee ist neu praktisch ein NATO-Binnenmeer.

Bis 2021 sprach in Finnland niemand von einem Ende der militärischen Neutralität. Der Überfall auf die Ukraine hat die sicherheitspolitischen Ausrichtung des Landes radikal verändert.

Schweden hatte bis 2021 das sicherheitspolitische Konzept „Blockfreiheit in Friedenszeiten, Neutralität in Kriegszeiten“.

Laut NZZ war in Schweden – ähnlich wie in der Schweiz – die bewaffnete Neutralität zwischen Mythos und Lebenslüge angesiedelt. „Bis auf die Zähne gerüstet, verbuchte man die Bündnisfreiheit gern als moralischen Mehrwert. De facto aber hing man vom Schutzschirm der Nato ab.“ (NZZ, 02.07.22).

Mit dem NATO-Beitritt haben die Schweden und Finnland vollen Zugang zu allen Bereichen des Bündnisses. Insbesondere steht ihnen der für die Landesverteidigung unverzichtbare Informationsaustausch mit allen andern NATO-Partnern offen.

Schweden hat die Wehrpflicht wieder eingeführt, aber anders als die Schweiz: für Männer und Frauen.

Dänemark, das sich vor 2022 nicht an der EU-Verteidigungs- und Sicherheitspolitik beteiligte, änderte seine Politik nach dem russischen Überfall auf die Ukraine mit einer Volksabstim-mung.

Europäische Sicherheitsarchitektur

Laut Artikel 5 des NATO-Vertrags vom 4. April 1949 gilt ein bewaffneter Angriff gegen ein NATO-Mitglied als Angriff gegen alle NATO-Staaten.

Im Falle eines solchen Angriffs ist jedes NATO-Mitglied verpflichtet, dem angegriffenen Land unverzüglich Beistand zu leisten bis die Unversehrtheit des NATO-Gebiets wieder hergestellt ist.

Die drei NATO-Kernziele für Europa sind:

  • Abschreckung und Verteidigung,
  • Krisenprävention und Krisenmanagement und
  • kooperative Sicherheit.

Laut Artikel 42 Absatz 7 EU-Vertrag (EUV, Lissabon 2007) schulden im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats der EU die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung.

Im Unterschied zur Schweiz waren damit die neutralen EU-Mitgliedstaaten Finnland und Schweden schon vor 2022 in die europäische Sicherheitspolitik eingebunden.

Die Beistandspflicht nach 42/7 EUV gilt auch für die verbliebenen neutralen EU-Mitgliedstaaten Irland und Österreich.

Sicherheitspolitische Optionen des Bundesrats

Der Bundesrat publizierte am 7. September 2022 einen „Zusatzbericht zum Sicherheitspolitischen Bericht 2021 über die Folgen des Krieges in der Ukraine“.

Der Bericht schildert aus Sicht der Regierung die Ereignisse im In- und Ausland ab dem Überfall Putins auf die Ukraine, am 24. Februar 2022.

Er kommt zum Schluss, der Krieg habe eine neue Dynamik in der sicherheits- und verteidigungspolitischen Kooperation in Europa ausgelöst.

„Diese wird angesichts der Bedrohung durch Russland intensiviert, sowohl im Rahmen der Nato wie auch der EU, wobei für die Sicherheit und Verteidigung Europas die Nato zentral bleibt. Zur Stärkung ihrer Sicherheit mitten in Europa muss die Schweiz Teil dieser Zusammenarbeit sein.“

Als neutraler Staat müsse die Schweiz die Unverletzlichkeit ihres Territoriums innerhalb der Grenzen des Zumutbaren sicherstellen können. Die Schweiz habe den Anspruch, sich selbstständig verteidigen zu können. Dies sei aber nicht unbeschränkt möglich.

„Je nachdem, wie mächtig ein Angreifer ist und über welche Mittel er verfügt, wäre die Schweiz in der Verteidigung auf Zusammenarbeit mit anderen Staaten angewiesen.“

Deshalb will sich der Bundesrat für den Fall eines bewaffneten Angriffs zwei Optionen offen halten:

  • entweder soll sich die Schweiz selbständig verteidigen
  • oder sie soll ihre Verteidigung zusammen mit anderen Staaten organisieren. Für diesen Fall müsse die Schweiz, insbesondere mit der Armee und dem Bevölkerungsschutz, jetzt schon die Kooperation mit der NATO und der EU vorbereiten. Alles unter Einhaltung der Neutralität.

Cherry-Picking

Der Bericht verzichtet auf eine Analyse der bestehenden europäischen Sicherheitsstruktur nach NATO-Vertrag und EU-Vertrag und die Rechte und Pflichten der beteiligten Länder.

Ohne vollen Informationsaustausch mit der NATO lange vor einem Krieg à la Ukraine nützt die Anschaffung der 36 US-Kampfflugzeuge Lockheed-Martin F-35 der CH-Landesverteidigung nichts. Sie überschreiten die Landesgrenze 6 Minuten nach dem Start.

In seiner Analyse erklärt der Bundesrat nicht, wie die Luftverteidigung der Schweiz ohne ein zuvor aufgebautes und eingeübtes europäisches Informationsnetz bei einem Bombardement analog Russland/Ukraine funktionieren soll.

Der Bundesrat verfolgt in der Sicherheitspolitik dasselbe Konzept wie in der Europapolitik im Verhältnis zum EU-Binnenmarkt.

Er möchte die Vorteile dieser europaweiten Strukturen in Anspruch nehmen, ohne die damit verbundenen Pflichten.

Unter Berufung auf die Souveränität lehnt er für die Schweiz die Einhaltung der gemeinsamen europäischen Binnenmarktregeln ab, möchte aber für die Schweizer Konsumenten und Unternehmen ungehinderten Zutritt zum europäischen Binnenmarkt.

Unter Berufung auf die Neutralität lehnt er die kollektive Verteidigung und die gegenseitigen Beistandspflichten nach NATO-Vertrag und EUV ab, möchte aber am Sicherheitsschirm von NATO und EU voll partizipieren.

Er folgt damit der Ideologie der einheimischen Rechtsnationalen. Die SVP/FDP-Mehrheit im Bundesrat prägt diese Sichtweise der Aussen- und Sicherheitspolitik seit über 15 Jahren.

Ablehnung der kollektiven Verteidigung

Die NATO erwartet von ihren Mitgliedstaaten, dass sie die Verantwortung für die europäische Sicherheit und die damit verbundenen Risiken und finanziellen Lasten gleichmässig nach ihrer wirtschaftlichen Stärke teilen und tragen.

Ohne die kollektive Abschreckungs- und Verteidigungsstrategie von NATO und EU für Europa gibt es keine Sicherheit für die Schweiz.

Damit setzt sich der Bundesrat nicht auseinander. Er lehnt für die Schweiz eine Beteiligung an der kollektiven Verteidigung Europas und ein Mittragen der Lasten ab.

Er meint, die Schweiz sei „dank ihrer geografischen Lage weniger stark exponiert.“ Ein direkter bewaffneter Angriff Russlands auf die Schweiz sei auch in absehbarer Zukunft unwahrscheinlich.

Man kann auch zu gegenteiligen Schlüssen kommen.

Die europäische Stromdrehscheibe in der Schweiz oder die internationale Swift-Zentrale in der Schweiz könnten - nach den Erfahrungen der Ukraine - für Putin durchaus lohnende Ziele sein, um die europäische Infrastruktur zu schädigen.

Mit einem Raketenangriff auf solche Ziele im Nicht-NATO-Land Schweiz würde der Diktator nicht vorne herein einen NATO-Verteidigungsfall auslösen. Der Abschreckungseffekt von Artikel 5 des NATO-Vertrags entfällt.

Für Putin eine attraktive Perspektive, um der NATO die Ernsthaftigkeit seiner Absichten vorzuführen und den Schaden möglichst gering zu halten. Um einer solchen Perspektive des unberechenbaren Diktators zu entgehen. Sind Schweden und Finnland der NATO beigetreten.

So gesehen, könnte das Abseitsstehen der Schweiz im geografischen Zentrum Europas auch ein besonderes Sicherheitsrisiko sein.

Dennoch verzichtet der Bundesrat auf eine realistische Analyse der Lage der Schweiz im Falle eines Raketenangriffs Putins auf europäische Infrastruktur in unserem Land.

Mag sein, dass er auf die freundschaftlichen Beziehungen von FDP-BR Cassis zum Putin-Gehilfen Lawrow zählt.

Ebenso verzichtet der Bundesrat auf eine Analyse der Sicherheitslage, wenn ein Mitglied der NATO und/oder der EU angegriffen und der NATO-Verteidigungsfall ausgelöst wird.

Angesichts der heutigen, über weite Distanzen wirkenden Kampfmittel, Raketen, Drohnen, Marschflugkörper ist die Ansicht des Bundesrates, die Schweiz sei wegen "ihrer geografischen Lage" weniger gefährdet, naiv.

Risikobeurteilung der NATO und der EU

NATO und EU beurteilen das Risiko gegenteilig:

im Juli 2022 beschloss der NATO-Rat, die Zahl der schnellen Eingreifkräfte an der NATO-Grenze zu Russland und Weissrussland auf mehr als 300.000 Mann zu erhöhen. Mit der Analyse der NATO befasst sich der Bundesrat nicht.

Wenn der Bundesrat eine Aktivierung von Artikel 5 des NATO-Vertrages in Europa für ausgeschlossen hält, müsste er zum Schluss kommen, dass seine grossen Rüstungsvorhaben Geldverschwendung sind. Das Gegenteil ist aber der Fall: der Bericht fordert primär Aufrüstung für die Schweiz.

Der Bundesrat erwähnt den Diktator Putin, seine Motive für die Kriegsführung in der Ukraine und sein militärisches Handeln nicht.

Er betrachtet die Person Putin, seine Macht, seine Ideologie und seine Mitläufer in Russland, in Europa und in der Schweiz für die Beurteilung der Sicherheit der Schweiz als irrelevant.

Russland wirft der Bundesrat schwere Verletzungen des Völkerrechts vor. Anderseits glaubt er, Putin würde bei einem Angriff auf den Westen den für die Schweiz beanspruchten Status als neutraler Staat beachten.

Dabei betrachtet Putin schon jetzt die Neutralität der Schweiz als nicht existent, so wie er die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine als inexistent ansieht.

Ein Angriff Putins auf ein EU-Land würde nach der bestehenden europäischen Sicherheitsarchitektur die kollektive Verteidigung Europas auslösen. Ganz Europa und die Vereinigten Staaten wären im Krieg.

Autokraten, Diktatoren und Nationalisten wie Putin, Xi Jinping, Orban, Erdogan, Mohammed bin Salman, Assad, Trump etc., welche Freiheit und Sicherheit von Europäern und Schweizern bedrohen, wird es auch in Zukunft geben. Man muss ihr Verhalten analysieren und Konsequenzen ziehen.

Sicherheitspolitische Sackgasse

Ohne Lageanalyse meint der Bundesrat, solange der militärische Feind nicht die Schweizer Grenze überschreitet, sei die Schweiz vom europäischen Verteidigungsfall nicht betroffen.

Er müsse vorher nicht entscheiden, ob sich die Schweiz selbständig verteidigen wolle oder „ihre Verteidigung zusammen mit anderen Staaten organisieren“ soll.

Bleibt die Schweiz im europäischen Verteidigungsfall unbehelligt? Kann sie den Europäern im Krieg gegen Europa den Beistand verweigern und geltend machen, das sei ein Krieg anderer, der die Schweiz nicht betrifft?

Im Februar/März 2022 ist der bundesrätliche Widerstand gegen ein Mittragen der europäischen Sanktionen jedenfalls innert weniger Tage zusammengebrochen.

Hybride Kriegsführung

Hybride Kriegsführung gegen Europa, unter Einschluss der Schweiz, ist die wahrscheinlichste Konfliktvariante im Verhältnis zu totalitären Regimen wie Russland und China.

Ziel hybrider Kriegsführung ist die Untergrabung demokratischer und rechtsstaatlicher Funktionen und die Schädigung der täglichen Lebensgrundlagen möglichst vieler Menschen. Energieversorgung, Kommunikationsnetze, Lieferketten, Infrastruktur, Nahrungsmittelproduktion, Wahlen werden verdeckt angegriffen, um in Demokratien Chaos und Unsicherheit zu verbreiten.

Dass Putin mit der hybriden Kriegführung Erfolge erzielt, belegt die beträchtliche Zahl von Putin-Freunden im eidgenössischen rechtsnationalen Lager. SVP-BR Maurer betrachtet Putin als „grossen Strategen“ und Lawrow als „besten Aussenminister“.

Anders als die Europäer lässt die SVP/FDP-Regierungsmehrheit die russische Propagandawalze im CH-Internet ungehindert laufen – ein wirksames Abwehrdispositiv gegen die hybride Kriegführung existiert nicht.

Die russischen Botschaften in Bern und Genf und die russischen Konsulate sind von zahlreichen russischen Agenten bevölkert, die mitten in Europa ihre Aufgaben für den Kreml erfüllen. Für FDP-BR Cassis ist das kein Thema.

Trittbrettfahren als sicherheitspolitische Strategie?

Kann der Bundesrat als Trittbrettfahrer erst dann in die europäische Sicherheitsstruktur einsteigen, wenn die Schweiz von feindlichen Raketen getroffen wird, ihre Energieversorgung und Kommunikationsnetze unterbrochen und ihre AKWs in Gefahr sind, ihre IT-Server ausfallen, sie den Flüchtlingsströmen nicht mehr ausweichen kann und als Plattform für Desinformation in Europa benützt wird, etc.

Fragen, die sich der Bundesrat in seinem Bericht vom September 2022 zum Ukraine-Krieg nicht stellt, was ihn auch von jeder Beantwortung entbindet. Er hat darauf verzichtet, bei der NATO und der EU nachzufragen, ob seine Vorstellungen von Beistandsrechten ohne Beistandspflichten Anklang finden.

Die NATO-Strategie vom Juli 2022 in Reaktion auf den Ukrainekrieg erwähnt die Schweiz nicht.

Die Trittbrett-Fahrer-Strategie des Bundesrates in der Sicherheitspolitik führt genauso in die Sackgasse wie seine Cherry-Picking-Strategie in der Europa- und Binnenmarktpolitik.

Der Bundesrat lehnt das europäische kollektive Sicherheitskonzept von NATO und EU ab. Er setzt sich nicht mit NATO-Strategie und deren Auswirkungen auf die Schweiz auseinander.

Dennoch erwähnt er die NATO in seinem Bericht vom 7. September 2022 117 mal.

Er zählt auf, welche Leistungen er von der NATO für die Schweiz erwartet und an welchen NATO-Gremien, -Übungen und –Aktionen die Schweiz teilnehmen will, ohne die Verpflichtungen eines NATO-Mitglieds einzugehen.

Was soll man davon halten?

10.09.2022

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