Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Schweizer Sonderweg in Europa



In offiziellen Verlautbarungen zu den Beziehungen zur EU ist nicht mehr vom Königsweg, sondern vom Sonderweg der Schweiz die Rede.

Als neutraler „Sonderfall“ verstand sich die Schweiz nach dem Zweiten Weltkrieg, während des Kalten Kriegs bis zum Mauerfall am 9. November 1989.

Das lernte damals jeder Rekrut in der obligatorischen Rekrutenschule.

Der aktuelle schweizer „Sonderweg“ in Europa reiht sich psychologisch in die Historie des „Sonderfalls“ ein.

Gemeinsames europäisches Recht

Der Öffentlichkeit wird seit Neuestem regierungsamtlich mitgeteilt, es sei logisch, dass im europäischen Binnenmarkt für alle beteiligten Länder dieselben Regeln gelten, das gemeinsame europäische Recht.

Also auch für die Schweiz, wenn und solange sie sich mit den Bilateralen Abkommen am Binnenmarkt beteiligen will.

Selbst die ausgesprochen europa-kritische NZZ meint aktuell (05.04.2019): „Das Beharren der EU auf einem institutionalisierten Prozedere, das sicherstellt, dass die Schweiz dort, wo sie mitmacht, nach gemeinsamen Regeln spielt, ist nachvollziehbar.“

Ausschluss von der europäischen
Gesetzgebung und Rechtsprechung

Ist die Geltung des europäischen Rechts in der Schweiz einmal anerkannt, besteht der der Sonderweg der Schweiz nur noch darin, dass sie weder an der Gesetzgebung noch an der letztinstanzlichen Rechtsprechung über dieses Recht teilnehmen will.

Schweizer Regierung und Parlament lehnen seit bald dreissig Jahren wegen Souveränität und Neutralität jede Beteiligung der Schweiz an den demokratisch organisierten gesetzgebenden und rechtsprechenden europäischen Institutionen ab.

Anhänger des schweizer Bilateralismus loben dieses Modell und sagen: “Wir wollen passiv europäisches Recht übernehmen, um nicht beitreten zu müssen.“ Sie meinen das sei demokratisch und souverän.

Sie ziehen den Bilateralismus einem EU-Beitritt mit geteilter Souveränität und demokratischer Mitentscheidung in den europäischen Institutionen vor.

Die Regierung bezeichnet die passive schweizer Übernahme des europäischen Rechts ohne jede Beteiligung an der europäischen Rechtsetzung und Rechtsprechung als Königsweg der Schweiz.

Die Beitritts-Option hat die SVP/FDP-Regierungskoalition 2003/4 definitiv gestrichen.

Die Beitritts-Option hat die SVP/FDP-Regierungskoalition 2003/04 definitiv gestrichen. Das EDA/WBF-Integrationsbüro hat sie 2012 abgeschafft.

Vor 30 Jahren unter EVD-Staatssekretär Franz Blankart lautete die Regierungspolitik: „Beitrittsfähig bleiben, um nicht beitreten zu müssen.“

Gemeint war damit dasselbe Rezept:

Laufende Übernahme des europäischen Rechts ohne Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, um einen EU-Beitritt zu verhindern.

Die amtliche Kommunikation versprach virtuelle Demokratie und Souveränität, um die schon damals virulenten Rechtsnationalen in der SVP/FDP-Koalition zu beruhigen.

Diese verlangten nach dem Mauerfall - wie heute noch - Treue zum schweizer Nationalismus des 19./20. Jahrhunderts.

Eine geteilte Souveränität in den europäischen gesetzgebenden und rechtsprechenden Institutionen hat damals die Regierung abgelehnt und sie tut es heute noch.

Das wäre mit einem EU-Beitritt verbunden. Was in der aktuellen politischen Landschaft in Bundesrat und Parlament diskussionslos – im Sinne der rechtsnationalen Glaubenssätze – als schlimmstmöglicher nationaler Tabubruch gilt.

Brexiteers und Remainers in Grossbritannien bezeichnen den schweizer Bilateralismus als EU-Vasallentum und lehnen ihn ab.

Souveräner Sonderweg im Bilateralismus

Die offizielle Schweiz sieht das anders. Der schweizer Bilateralismus gilt als besonders souverän und wird den Briten und andern empfohlen.

Diese abstruse Ideologie haben die Rechtsnationalen unter FDP-NR Fischer und SVP-NR Blocher im Kampf gegen den EWR installiert. Der Bundesrat hat sie nach seiner EWR-Niederlage zur offiziellen Doktrin erhoben. Heute ist sie unantastbar.

In ihrem neusten Paper vom März 2019 versprechen die Rechtsnationalen dem schweizer Publikum - wie seit eh und je - eine bilaterale Beteiligung am europäischen Binnenmarkt sei möglich, ohne dass die Schweiz das gemeinsame europäische Recht einhalten müsse.

Daher könne der Rahmenvertrag ohne weiteres abgelehnt werden.

Die SVP/FDP-Koalition der Regierung tritt nicht dagegen an, sondern lässt das Publikum wider besseres Wissen im Glauben, das sei für den Sonderfall Schweiz möglich.

Der Nonsens findet nach wie vor viel Zustimmung in Politik und Medien.

Opting out

Die Anhänger des Bilateralismus behaupten, mit dem Institutionellen Abkommen (Rahmenabkommen) könne die Schweiz weiterhin einen bilateralen Sonderweg mit speziellen Lösungen beanspruchen.

Sie können sich nämlich über ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs zur Auslegung und Anwendung des europäischen Rechts hinwegsetzen. Sie könne auch die Übernahme von europäischem Recht unilateral ablehnen.

Sie müsse nach dem Abkommen dann lediglich damit rechnen, dass die EU Gegenmassnahmen bis hin zur vollständigen Suspendierung der betroffenen Abkommen ergreifen könne.

In diesem Guillotine-Verfahren, das den Binnenmarkt-Zutritt der Schweiz aushöhlt, sehen die Anhänger des Bilateralismus Bilateralisten einen Rechtsanspruch auf ein souveränes „Opting out“ vom europäischen Recht.

Tatsächlich ist die Schweiz bei Verletzung des europäischen Rechts schlechter gestellt und stärkeren Pressionen der europäischen Institutionen ausgesetzt als wenn sie EU-Mitgliedstaat wäre.

Kein EU-Mitgliedstaat verliert - wie die Schweiz - den Binnenmarktzutritt bei Nichteinhaltung des europäischen Rechts.

Ein souveräner bilateraler Sonderweg mit negativem Touch.

Lohnschutz

Die Anhänger des Bilateralismus loben den Schweizer Sonderweg in Sachen „Lohnschutz“.

Bislang hat die Berner Politik unterstrichen, der Standort Schweiz habe deshalb wirtschaftliche Vorteile, weil die Arbeitsmarktregulierung hierzulande weniger rigide sei als jene der EU.

Jetzt ist eine 180-Grad-Wende angesagt.

Die Schweiz will den Arbeitsmarkt intensiver regulieren als die Europäer. Das verlangen Gewerkschaften und Gewerbeverband. Und sie finden viel Unterstützung in Politik und Medien.

FDP-BR Cassis hat die diskriminierende 8-tägige-Voranmeldefrist für Handwerksbetriebe aus dem angrenzenden EU-Ausland zur roten Linie der schweizerischen Europapolitik erklärt. Die Vorschrift sei unverzichtbarer Bestandteil der schweizerischen Sozialpartnerschaft.

Es gehe um Lohnschutz.

Tatsächlich geht es um eine einseitige diskriminierend Schlechterstellung der Konkurrenten aus benachbarten Binnenmarktländern. Mit dem protektionistischen Ziel, sie von Aufträgen aus der Schweiz fern zu halten.

Ausserdem geht es den Gewerkschaften und dem Gewerbeverband darum, ihre lukrativen, mit Steuergeld bezahlten Kontrollen über die ausländischen Konkurrenten zu behalten.

Wäre Lohnschutz das Thema, könnte das Parlament unter dem geltenden Binnenmarktrecht per Gesetz flächendeckend hohe Mindestlöhne mit rigorosen Lohnkontrollen einführen, allerdings nicht nur für die Konkurrenten aus dem benachbarten Ausland, sondern für alle Betriebe, auch die schweizerischen. Da wäre dann der Gewerbeverband nicht mehr dabei.

In den bilateralen Verträgen hat sich die Schweiz 1999 ausdrücklich zu einer Gleichbehandlung der Betriebe gemäss europäischem Recht verpflichtet.

Über diese bilaterale Abmachung setzt sich die Regierung seit mehr als 10 Jahren hinweg.

Erst deswegen fordert die EU heute ein Rahmenabkommen, um die Umsetzung des vereinbarten europäischen Rechts sicherzustellen.

Umfassende Mitspracherechte

Die Anhänger des Bilateralismus rühmen die „umfassenden Mitspracherechte“ der Schweiz laut Institutionellem Abkommen.

In Rechtsetzung und Rechtsprechung des europäischen Binnenmarktrechts hat die Schweiz, als Drittstaat, nach dem Abkommen nichts zu sagen.

Die EU-Verwaltung will lediglich von ihr - nicht von der Schweiz - ausgewählte schweizer Fachleute aus betroffenen Unternehmen und aus der Bundesverwaltung anhören, sofern die Schweiz von Rechtsänderungen betroffen ist.

Im Gemischten Ausschuss können schweizer Beamte dazu Diskussionsbeiträge abliefern.

Wenn bei der Vorbereitung von Binnenmarkt-Erlassen EU-Verwaltungsstellen Ansichten und Eingaben von Wirtschaftskreisen und Bundesstellen entgegennehmen, hat dies nichts mit einer Teilnahme an Gesetzgebung und Rechtsprechung im europäischen Binnenmarkt zu tun.

Bei dieser Sachlage "umfassende Mitspracherechte" zu behaupten, grenzt an Irreführung.

Faktisch laufen alle relevanten Beziehungen im Verhältnis Schweiz-EU auf der Ebene unterer Verwaltungsstellen ab, ausserdem über Wirtschaftslobbyorganisationen. Die Schweizer Unternehmen stecken mehr Geld in das Lobbying in Brüssel als in Bern.

Warum? Weil in der EU die wirtschaftsrelevante Gesetzgebung für die Schweiz stattfindet, nicht in Bern.

Schweizer Parlament auf Abstellgleis

Der EU-Beamte, der sich im European External Action Service, neben San Marino, Andorra etc., auch mit der Schweiz beschäftigt, befindet sich auf der sechsten Hierarchiestufe der EU-Verwaltung.

Er widmet sich jeweils der schweizer Parlamentarierdelegation bei deren Besuchen in Brüssel.

Die Delegation darf mit Kollegen aus dem EU-Parlament diskutieren und Resolutionen verfassen. Sie hat ausserdem ein gutes Mittagessen zugut.

Selbstverständlich werden die EU-Parlamentarier auch in die Schweiz eingeladen. Dann findet hier ein analoges Zeremoniell statt. Der Bundesrat entsendet Beamte der Bundesverwaltung.

Diese parlamentarischen Aktivitäten lösen kein relevantes politisches Echo aus, weder in der Schweiz, noch in der EU.

Von einer Mitsprache des schweizer Parlaments an der EU-Gesetzgebung betreffend europäische Erlasse, die in der Schweiz gelten, kann keine Rede sein

Eine Mitsprache besteht nicht einmal Schweiz-intern, in Bezug auf die Vertretung der Schweiz in den Gemischten Ausschüssen durch Beamte der Bundesverwaltung.

Die dortigen schweizer Diskussionsbeiträge zum europäischen Recht sind ausschliesslich Sache des Bundesrats. Daran ändert das Institutionelle Abkommen nichts.

Anders ist die Lage für die Parlamente der EU-Mitgliedstaaten, die - wie die Schweiz - europäisches Recht übernehmen müssen.

Seit dem Vertrag von Lissabon werden die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten im Sinne der geteilten Souveränität in den europäischen Gesetzgebungsprozess für europäisches Recht formell einbezogen.

Obwohl europäisches Recht in der Schweiz angewendet wird, hat der schweizer Gesetzgeber mit dem Erlass nichts zu tun. Er kann – wenn überhaupt – nur die Übernahme konstatieren.

In der Tat ein Sonderweg, allerdings ohne jede souveränitäts- und demokratiepolitische Perspektive. Am Ende des Königswegs nur noch Vasallentum

Selbstachtung

Niemand zwingt die Schweiz, sich am europäischen Binnenmarkt zu beteiligen.

Wenn sie es tut, sollte sie es aus Selbstachtung als EU-Mitglied tun, mit Beteiligung in geteilter Souveränität an der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung, d.h. mit Vertretung in den demokratisch organisierten Europäischen Institutionen, und nicht als bilateraler Empfänger von EU-Recht, eben als EU-Vasall.

Selbstverständlich kann die Schweiz in demokratischer Volksabstimmung auch den rechtsnationalen Sektierern auf ihrem Sonderweg folgen und aus dem europäischen Binnenmarkt austreten.

Sie kann so souverän die Grenzen gegen den freien europäischen Personen-, Waren-, Dienstleistungs- und Finanzmarktverkehr dicht machen und sich politisch und wirtschaftlich von Europa abschotten.

Was nicht funktioniert: den Zutritt zum europäischen Binnenmarkt fordern und gleichzeitig die Einhaltung des gemeinsamen europäischen Rechts ablehnen. Das macht die rechtsnationale SVP in Regierung und Parlament.

05.04.2019

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