Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Die Schweiz ist seit 2002 auf eigenen Wunsch am EU-Binnenmarkt beteiligt. Wohlstand und wirtschaftliche Zukunft der Schweiz hängen von dieser Beteiligung ab.
Was der Binnenmarkt ist, wie er funktioniert, ist kaum ein Thema, weder im Bundeshaus, noch in den Medien.
Die 28 Mitgliedstaaten der EU (ohne die Schweiz) haben sich im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) einstimmig auf fünf Grundfreiheiten im Binnenmarkt verständigt:
die Warenverkehrsfreiheit (Artikel 28 ff. AEUV)
die Arbeitnehmerfreizügigkeit (Artikel 45 ff. AEUV)
die Niederlassungsfreiheit für Selbständigerwerbende (Artikel 49 ff. AEUV)
die grenzüberschreitende Dienstleistungsfreiheit (Artikel 56 ff. AEUV)
die Zahlungsverkehrsfreiheit (Artikel 63 ff. AEUV)
Alle 28 EU-Mitgliedstaaten waren und sind der Ansicht, dass die fünf Grundfreiheiten – ungeachtet durchaus bestehender Umsetzungsprobleme - langfristig die wesentliche Voraussetzung für den Wohlstand in allen beteiligten europäischen Ländern sind.
Mit europäischen Gesetzen werden auf EU-Ebene, im europäischen Rat und im europäischen Parlament, die Regeln zur Umsetzung der Grundfreiheiten im EU-Binnenmarkt erlassen.
Die europäischen Gesetze werden immer wieder geänderten Verhältnissen und Bedürfnissen angepasst.
Beispielsweise hat die Finanzkrise 2008 dazu geführt, dass heute Banken und Finanzplätze in Europa weitgehend europäischen Gesetzen und Aufsichtsbehörden unterstehen.
Mit den Bilateralen Verträgen I und II, welche die Schweiz ab 1999 mit der EU abgeschlossen hat, hat sich die Schweiz am Binnenmarkt beteiligt.
Die Bilateralen Verträge haben den Charakter eines Assoziationsabkommens, welches die Binnenmarktfreiheiten 1) – 3) und 5) betrifft und die Schweiz verpflichtet, das zugehörige europäische Recht zu übernehmen.
Nicht eingeschlossen ist die Dienstleistungsfreiheit 4), weil die Banken beim Vertragsabschluss das grenzüberschreitende Bankgeheimnis nicht preisgeben wollten.
Inzwischen ist das grenzüberschreitende Bankgeheimnis auf Druck der USA und der EU von BDP-BR Widmer-Schlumpf, Finanzministerin, früher SVP, sang- und klanglos liquidiert worden.
Schweizer Banken sind ausländischen Behörden auskunftspflichtig, dürfen aber mangels Übernahme der Dienstleistungsfreiheit keine europäischen Kunden aus der Schweiz heraus bedienen.
Wollen sie europäische Kunden bedienen, müssen sie in der EU Niederlassungen gründen, die europäischem Recht unterstehen.
Die Warenverkehrsfreiheit wurde eingeschränkt übernommen. Deshalb stehen an der Schweizer Grenze – anders als an den Grenzen der EU-Staaten - Zöllner, um auf dem Warenverkehr Zölle und Mehrwertsteuer zu kassieren.
Personenkontrollen sind nach europäischem Recht an der schweizer Grenze nicht gestattet, können aber nach den Voraussetzungen kantonaler Polizeigesetze im Grenzraum von der Kantonspolizei so vorgenommen werden, wie im ganzen Kanton.
Das europäische Recht zum Binnenmarkt regelt insbesondere wirtschaftliche Beziehungen. Es betrifft praktisch alle Branchen. Das heutige schweizerische Wirtschaftsrecht wird zur Hauptsache durch das europäische Recht bestimmt. Auch das neue EU-Finanzmarktrecht wird die Schweiz im autonomen Nachvollzug übernehmen.
Der Bundesrat hat in den Bilateralen I und II bewusst darauf verzichtet, sich am Erlass und an der Auslegung des europäischen Rechts, das in der Schweiz gilt, zu beteiligen.
Er hat es vorgezogen, die europäischen Gesetze, meist auf dem Verwaltungsweg über die Gemischten Beamten-Ausschüsse und ohne Beteiligung des schweizer Gesetzgebers, tel quel zu übernehmen.
Die rechtsnationale SVP, die nach der mit 50.3% der Stimmen gewonnen EWR-Abstimmung 1992 das Land auf den „bilateralen Königsweg“ gezwungen hat, meint, das sei souverän.
Die schweizer Regierung hat sich ab den Bundesratswahlen 2003/2004 dieser Sichtweise angeschlossen. SP-BR Calmy Rey, SVP-BR Blocher und FDP-BR Merz sind damals neu in die Regierung eingetreten.
Die Regierung in neuer Zusammensetzung lehnt jede Beteiligung der Schweiz an den europäischen Gremien, welche die in der Schweiz geltenden europäischen Gesetze erlassen, ab. Sie meint ebenfalls, das sei souverän und erst noch neutral.
Der Bundesrat hat sich dieser Sichtweise angeschlossen.
Er lehnt jede Beteiligung der Schweiz an den europäischen Gremien, welche die in der Schweiz geltenden europäischen Gesetze erlassen, ab. Er meint ebenfalls, das sei souverän und erst noch neutral.
Nach demokratischen und rechtsstaatlichen Prinzipien sind diese Ansichten Nonsens. Der Bilateralismus ist weder souverän, noch neutral.
Wenn – wie in der Europapolitik des Bundesrats – rechtsnationale Ideologie und Nationalismus regieren, muss jede rationale Bewertung zurücktreten.
In der Abstimmung vom 9. Februar 2014 hat das Volk der rechtsnationalen Masseneinwanderungsinitiative MEI zugestimmt.
Diese Initiative verlangt, es seien die Grundfreiheiten 2) und 3), d.h. die Arbeitnehmerfreizügigkeit und die Niederlassungsfreiheit für Selbständigerwerbende aus den Bilateralen Verträgen zu streichen, jedenfalls soweit es nicht Schweizer, sondern EU-Bürger betrifft.
Was Arbeitnehmerfreizügigkeit im Binnenmarkt heisst, sagt Artikel 45 AEUV:
Arbeitnehmer der Binnenmarktländer haben das Recht, sich im gesamten EU-Binnenmarkt um Stellen zu bewerben und sich in jedem Binnenmarktland aufzuhalten, um dort eine Beschäftigung auszuüben.
Jede auf Staatsangehörigkeit beruhende unterschiedliche Behandlung der Arbeitnehmer aus Binnenmarktländern ist im Binnenmarkt unzulässig.
Das soll nach dem neuen, von der rechtsnationalen SVP verfassten Verfassungsartikel für EU-Bürger in der Schweiz nicht mehr gelten.
Die Schweiz hat sich 1999 im Personenfreizügigkeitsabkommen gegenüber der EU verpflichtet, die Arbeitnehmerfreizügigkeit im Sinne des Artikels 45 AEUV und der zugehörigen europäischen Gesetzgebung einzuhalten.
Die SVP meint die Zustimmung einer knappen Mehrheit des Volkes zu ihrer MEI-Initiative gehe allen Verträgen, welche die Schweiz mit der EU abgeschlossen hat, vor.
Auch das ist Nonsens, nach Völkerrecht und schweizer Verfassungsrecht.
Wie in jedem anderen Vertragsverhältnis kann nicht ein Vertragspartner vom andern verlangen, dass der Vertrag einseitig zu seinen Gunsten geändert wird.
Dementsprechend kann die Schweiz die Bilateralen Verträge I und II im Sinne der Abstimmung vom 9. Februar 2014 nur ändern, wenn die EU als Ganzes und jeder einzelne der 28 EU-Mitgliedstaaten zustimmen.
Wer von seinem Vertragspartner Änderung verlangt, muss sich in seine Lage versetzen, um abschätzen zu können, ob seine Forderungen Erfolgsaussichten haben.
Ausserdem ist es nützlich zu wissen, wer alles zustimmen muss: jeder einzelne der aktuell 28 EU-Mitgliedsstaaten (meist durch Regierungs- und Parlamentsmehrheit), die Mehrheit des EU-Parlaments, die Mehrheit des EU-Rates, die Mehrheit der EU-Kommission, der EuGH.
Weshalb sollten die EU-Organe eine Diskriminierung der EU-Bürger auf dem Schweizer Arbeitsmarkt akzeptieren? Weshalb sollten die EU-Mitgliedstaaten eine Diskriminierung ihrer Staatsangehörigen auf dem Schweizer Arbeitsmarkt akzeptieren?
Darauf hat bis heute niemand eine Antwort geben können. Die Chancen einer Vertragsänderung zur Umsetzung der Volksabstimmung scheinen bei realistischer Einschätzung minimal.
Es sieht so aus, als ob sich die Schweiz am 9. Februar 2014 gegen eine weitere Beteiligung am EU-Binnenmarkt entschieden hat. Die rechtsnationalen Kräfte prognostizieren als Konsequenz ihrer Initiative grosse Vorteile für das Land. Ich bin da definitiv anderer Ansicht.
Selbstverständlich ist Schweiz souverän, aus dem Binnenmarkt auszusteigen und die Grenzen für den Warenverkehr, den Arbeitsmarkt, den Dienstleistungsverkehr und den Zahlungsverkehr wieder hoch zu ziehen.
Die EU wird ihrerseits zur Schweiz die EU-Aussengrenzen hochziehen. Jeder ist seines Glückes Schmid. Um keine Dummheiten zu begehen, sollte man aber vorher gründlich darüber nachdenken.
Nachdenken und rationales Handeln gehört nicht zu den Eigenschaften der rechtsnationalen SVP und ihrer Führer.
02.06.2014