Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Aus dem Verlauf der Brexit-Verhandlungen kann die Schweiz Rückschlüsse zu den Erfolgsaussichten ihrer Position in den Verhandlungen mit der EU über das Rahmenabkommen ziehen.
Johnson fordert von der EU einen Freihandelsvertrag nach dem Muster des Freihandelsabkommens der EU mit Kanada (EU-Canada Comprehensive Economic and Trade Agreement, 2017, CETA).
Das CETA gestattet Kanada auf der Basis von Gegenseitigkeit den zollfreien Zugang kanadischer Waren auf den europäischen Binnenmarkt, wenn und soweit diese Waren dem europäischen Recht entsprechen.
Im CETA verpflichten sich EU und Kanada gegenseitig, die Standards für Unternehmen betreffend Umwelt, Arbeitsmarkt, Wettbewerb und öffentliche Auftragsvergabe nicht unter das Niveau im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses abzusenken.
Die EU ist nicht bereit, mit Grossbritannien ein Freihandelsabkommen nach dem Muster des EU/CA-FDA abzuschliessen.
Sie fordert von Grossbritannien nicht nur keine Regression der Standards für Umwelt, Arbeitsmarkt, Wettbewerb der Unternehmen und öffentliche Auftragsvergabe gemäss der Rechtslage im Zeitpunkt des Vertragsabschlusses.
Auch in Zukunft – solange das Abkommen in Kraft ist – soll Grossbritannien die britische Gesetzgebung über Umwelt, Arbeitsmarkt, Wettbewerb und öffentliche Auftragsvergabe laufend den EU-Standards anpassen.
Im Falle einer Nichtanpassung der UK-Gesetzgebung will die EU unilateral die Zollsenkungen laut Freihandelsabkommen reduzieren oder aufheben.
Die EU will jede Unterminierung des europäischen Binnenmarkts vermeiden. Ausserdem will sie ihre starke globale Position als Standardsetter nicht mit einem CETA gefährden.
Kanada und Grossbritannien sind für die EU zwei Paar Schuhe, die sich nicht gleichsetzen lassen.
Das Handelsvolumen mit Kanada macht 2% des Handelsvolumens der EU aus. Ausserdem ist Kanada durch den Atlantik von der EU getrennt, Grossbritannien dagegen nur durch den Ärmelkanal.
Anders als ein Freihandelsabkommen mit UK kann das CETA aus Sicht der EU weder den europäischen Binnenmarkt unterminieren, noch die starke globale Position der EU als Standardsetter gefährden.
Das Vertrauen in Johnson und seine Regierung ist erschüttert.
Am 30. Januar 2020 ist das Austrittsabkommen EU/UK in Kraft getreten. Am 31.01.20 ist UK aus der EU ausgetreten.
Am 09.09.20 stellte Johnson dem britischen Parlament den Entwurf einer UK Internal Market Bill zu. Das Gesetz soll der britischen Regierung gestatten, die Regeln des Austrittsabkommens betreffend das Verhältnis Irland/Nordirland zu brechen.
Bisher billigte das britische Parlament im Dezember mit der Tory-Mehrheit dieses Vorhaben, letztmals am 7. Dezember 2020.
Die EU reagierte darauf mit der Erklärung, dass ein Bruch des Austrittsabkommens ein Freihandelsabkommen EU/UK ausschliesse: pacta sunt servanda.
In den Brexit-Verhandlungen lässt sich die EU von ihren langfristigen Interessen im globalen Wettbewerb leiten. Der europäische Binnenmarkt ist ökonomisch die grösste Errungenschaft der 27 EU-Mitgliedstaaten.
Seine Integrität und Homogenität haben einen sehr hohen Stellenwert. Er ist das ökonomische Fundament des europäischen Einigungsprozesses nach dem zweiten Weltkrieg.
Mangels militärischer Stärke, kann sich der europäische Kontinent nur mit dem Instrument des Binnenmarktes global behaupten, sowohl gegenüber den USA, wie gegenüber China.
Die EU nimmt daher einen No-Deal mit UK, und damit verbunden gegenseitige Zölle auf WTO-Niveau, in Kauf, obwohl dadurch für die EU, ihre Konsumenten und Unternehmen zusätzliche Kosten entstehen.
Bei allen 27 EU-Mitgliedstaaten haben die Brexit-Verhandlungen das Bewusstsein der Bedeutung des europäischen Binnenmarktes und seiner gemeinsamen Regeln deutlich verfestigt.
Die Erwartung von Johnson bei seinem Start als Premierminister, er könne einen Keil zwischen die Mitgliedsländer schlagen, hat sich nicht erfüllt.
Analog Premierminister Johnson verfolgt der Bundesrat die Cherry-Picking-Strategie. Seit über zehn Jahren verlangt er von der EU eine Aufweichung der Integrität und Homogenität des europäischen Binnenmarktes zugunsten der Schweiz.
Analog Premierminister Johnson meint der Bundesrat, er könne einzelne Mitgliedsländer auf seine Seite ziehen und damit den Widerstand der europäischen Organe brechen.
Die aktuelle SVP/FdP-Regierung ist rechtsnational orientiert. Sie pocht – wie Johnson – auf die nationale Souveränität und will das europäische Recht für die Teilnahme am Binnenmarkt nicht akzeptieren.
Mit diesen Vorstellungen hat der Bundesrat nacheinander vier Staatssekretäre nach Brüssel geschickt. Alle sind gescheitert.
Im Oktober 2020 hat er Staatssekretär Balzaretti, wie bereits drei Vorgänger, wegen Erfolglosigkeit aus den Verhandlungen entlassen und die fünfte Staatssekretärin, Botschafterin Livia Leu, mit dem gleichen Mandat nach Brüssel geschickt.
Bis anhin hat sie keinen Verhandlungstermin in Brüssel zu erhalten, sei es wegen der Pandemie oder wegen dem Brexit.
Als Nicht-EU-Mitglied hat die Schweiz keinen Einfluss auf die europäische Agenda.
Der Ausgang der Brexit-Verhandlungen mit dem No der EU zur britischen Cherry-Picking-Strategie sollte Grund für eine Überprüfung der bundesrätlichen Cherry-Picking-Strategie sein.
Wenn die EU Johnson keine Erosion des europäischen Binnenmarkts gestattet, weshalb sollte sie es der schweizer Regierung gestatten?
Grossbritannien hat gegen 70 Mio. Einwohner, die Schweiz hat 8.5 Mio. Einwohner. Das Handelsvolumen UK/EU beträgt ca. 470 Milliarden €. Das Handelsvolumen CH/EU (exkl. UK) beträgt ca. 230 Milliarden €.
Die Zahlen sprechen gegen das Argument, die Schweiz könne – anders als UK – den europäischen Binnenmarkt nicht unterminieren, wenn ihr die EU das angestrebte Cherry-Picking gestatten und auf die Einhaltung des europäischen Rechts zugunsten der Schweiz verzichten würde.
Dazu kommt die geografische Lage der Schweiz als Enklave der EU, während UK immerhin durch den Ärmelkanal vom Kontinent getrennt ist.
Johnson hat die britischen Detailhändler und Apotheken aufgefordert für die Zeit nach dem 31.12.20 für drei Monate Nahrungsmittel und Medikamenten-Lager anzulegen.
Die Konsumenten hat er aufgefordert, im Interesse der britischen Souveränität Preissteigerungen von 10 – 15 % zu akzeptieren.
Die Lastwagen-Kolonnen in Dover sprechen für sich. Indizien für die Schwierigkeiten, wenn EU-Aussengrenze Realität werden.
Im Konflikt betreffend das grenzüberschreitende schweizer Bankgeheimnis haben 2008 alle drei Organe der EU (Parlament, Rat und Kommission) festgestellt, dass die Schweiz mit ihren Steuer-Regulierungen den Wettbewerb im europäischen Binnenmarkt untergräbt.
Daraufhin hat sich der Bundesrat auf Antrag von BR Widmer-Schlumpf (früher SVP, dann BDP) ohne Befragung von Volk und Parlament 2013 den europäischen Konditionen unterzogen, das grenzüberschreitende Bankgeheimnis beerdigt und die grenzüberschreitende Steuer-Amtshilfe eingeführt.
Im Jahr 2000 meinte FDP-BR Villiger "Das Bankgeheimnis steckt quasi in unseren Genen". FDP-BR Merz sagte noch 2008, am Bankgeheimnis werde sich das Ausland die Zähne ausbeissen.
Das Verbreiten von Illusionen über die Machtposition der Schweiz in Europa hat Tradition in der SVP/FDP-Koalition.
Wenn auch nicht in gleichem Ausmass wie im Falle Johnson, ist das Vertrauen der EU-Kommission in die Verhandlungsführung des Bundesrates erschüttert.
Durch seinen bevollmächtigten Staatssekretär Balzaretti hat der Bundesrat die Rahmenabkommen-Verhandlungen mit EU-Kommissar Hahn, damals zuständig für Europäische Nachbarschaftspolitik, namens der Schweiz am 23.11.18 für abgeschlossen erklärt.
Zwei Wochen später distanzierte sich die SVP/FDP-Regierung namens der Schweiz vom erzielten Verhandlungsergebnis und desavouierte EDA-Staatssekretär Balzaretti. Ursache war die lärmige Opposition der rechtsnationalen SVP.
Wegen dieser Culpa in contrahendo beharrt die EU-Kommission noch nachdrücklicher auf den Enforcement-Regeln des Rahmenabkommens.
Das Vertrauen ist dahin.
Bern wird sich bewegen müssen, wenn eine Erosion der schweizer Beteiligung am europäischen Binnenmarkt vermieden werden soll.
Nach den Brexit-Verhandlungen gilt dies noch mehr als vor den Brexit-Verhandlungen.
Indessen: wegen der ideologischen Denkverbote der rechtsnationalen Bundesrats-Mehrheit kann sich die Schweiz nicht bewegen. Das Problem bleibt, so lange diese Mehrheit nicht ändert, analog der Lage in Grossbritannien.
Der frühere Tory Parteipräsident Chris Patten sagte, Johnson sei kein Konservativer, sondern ein englischer Nationalist. Und John Le Carré: “I think Brexit is totally irrational, that it’s evidence of dismal statesmanship on our part, and lousy diplomatic performances”.
Auch Analogien zur Politik der aktuellen SVP/FDP-Regierung.
Unwahrscheinlich, dass diese Regierung Lehren aus den Brexit-Verhandlungen zieht. Die SVP-Ideologie hat Vorrang.
09.12.2020