Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Chefredaktor Arthur Rutishauser
Tagesanzeiger
„Das Abkommen
ist einer Demokratie unwürdig“



Chefredaktor Arthur Rutishauser schreibt am 26. Januar 2019 im Tagesanzeiger: „Das Rahmenabkommen mit der EU ist in der jetzigen Form unannehmbar und muss entweder nachgebessert oder abgelehnt werden.“

„ Das Abkommen ist einer Demokratie unwürdig.“

Gründe

Sucht man nach den Gründen für diese Beurteilung heisst es,

  1. laut Schätzungen würden rund 30'000 EU-Bürger zusätzlich in die Schweiz einreisen,
  2. könnten die Bestimmungen zur Umsetzung der Ausschaffungsinitiative nicht durchgesetzt werden, es sei denn, jemand stelle eine Gefahr für die Öffentlichkeit dar,
  3. sei unklar, wie schnell und in welchem Ausmass EU-Bürgern Sozialleistungen gewährt werden müssten.

Alle drei Argumente bedienen den aktuellen rechtsnationalen, fremdenfeindlichen Mainstream.

Zweck
des Rahmenabkommens

Das Institutionelle Abkommen (= Rahmenabkommen) bezweckt Schweizern und EU-Bürgern in jenen Bereichen des Binnenmarkts, an welchen die Schweiz teilnimmt, im gesamten Binnenmarkt – auch in der Schweiz - Gleichbehandlung zu garantieren und einheitliche Bedingungen zu gewährleisten.

Die Schweiz nimmt seit 1. Januar 2002 mit den Bilateralen Verträgen I und II am europäischen Binnenmarkt teilt.

Seit 17 Jahren übernimmt sie laufend in grossem Umfang europäisches Recht, insbesondere in den Bereichen Wirtschaft, Personenfreizügigkeit, Polizei, Migration, Verkehr.

Die Rechtsübernahme erfolgt teils über die Bilateralen Verträge durch die Bundesverwaltung in Gemischten Ausschüssen EU/CH, teils im autonomen Nachvollzug durch Verordnungen des Bundesrats, selten durch den ordentlichen Gesetzgeber.

Diskriminierungsverbot

Die Regeln des europäischen Binnenmarkts verbieten in ihrem Anwendungsbereich grundsätzlich jede Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit.

Diesem Grundsatz hat die Schweiz beim Abschluss der Bilateralen Verträge I bereits 1999 zugestimmt, auch im Bereich der Personenfreizügigkeit.

Mit dem Institutionellen Abkommen soll die tatsächliche Umsetzung dieses seit 1.1.2002 in der Schweiz geltenden Prinzips gewährleistet werden.

Die schweizer Rechtsnationalen der SVP lehnen sowohl den Grundsatz wie auch seine konkrete Umsetzung ab und wollen deshalb das Personenfreizügigkeitsabkommen kündigen.

Nach ihrer Ansicht sind EU-Bürger, die in der Schweiz leben und arbeiten, in der Regel schlechter zu behandeln als Schweizerbürger. Das aber widerspricht dem europäischen Binnenmarktrecht, das in der Schweiz seit 1.1.2002 gilt.

Familiennachzug

Nach Binnenmarkrecht können Angehörige eines Binnenmarktlandes ihre Familienangehörigen nachziehen, wenn sie fünf Jahre lang rechtmässig in einem Binnenmarktland gelebt haben.

Diese Recht auf Familiennachzug hält der Chefredaktor des Tagesanzeigers, Rutishauser, für unannehmbar, weil dadurch allenfalls 30‘000 Angehörige eines EU- oder EFTA-Landes in die Schweiz umziehen könnten.

Das Binnenmarktrecht geht dagegen davon aus, dass nach fünf Jahren ordnungsgemässem Aufenthalt kein sachlicher Grund mehr besteht, EU-Zuzüger bezüglich des Rechts auf Familie schlechter zu behandeln als Schweizer.

Dass auch Schweizer in einem andern Binnenmarktland ihre Familienangehörigen nach fünf Jahren mit Aufenthaltsrecht nachziehen können, ist für Europa-Gegner irrelevant. Nach ihrer Ansicht sollten national gesinnte Schweizer ohnehin nicht in einem andern europäischen Land leben und arbeiten.

Weshalb kommen EU-Bürger überhaupt in die Schweiz? Nur deshalb weil sie von schweizer Unternehmern, auch aus der Medienbranche, in der EU als qualifizierte Fachleute rekrutiert und in der Schweiz angestellt werden.

Solche Leute müssen nach Ansicht des Tagesanzeigers auf ein Familienleben in der Schweiz verzichten. Zu möglichst geringen Kosten sollen schweizer Unternehmer nur ihre Arbeitskraft ausnützen. Deshalb braucht es aus Sicht des Tagesanzeigers Diskriminierung betreffend das Familienleben.

Würden schweizer Unternehmer nicht in der EU rekrutieren, gäbe es keine Zuwanderung aus der EU.

Die von Chefredaktor Rutishauser und den Rechtsnationalen gesichtete Bedrohung der Schweiz durch 30'000 Zuwanderern wäre gebannt.

Landesverweisung

Seit 1. Oktober 2016 gelten in der Schweiz die Artikel 66a und 66a_bis StGB.

Wegen der Annahme der SVP-Ausschaffungsinitiative (2010) musste die strafrechtliche Landesverweisung wieder ins Strafgesetzbuch aufgenommen werden. Vor zwanzig Jahren war sie abgeschafft worden.

Nach Ansicht des Bundesgerichts steht eine Landesverweisung von EU-Bürgern nicht im Widerspruch zum Binnenmarktrecht. Auch dann nicht, wenn die betreffende Person während mehr als fünf Jahren rechtmässig ihren Aufenthalt in der Schweiz hatte und sie die öffentliche Sicherheit in keiner Weise gefährdet.

Nach dem Institutionellen Abkommen kann die Binnenmarktkonformität einer Landesverweisung grundsätzlich vom Europäischen Gerichtshof überprüft werden.

Kommt der EuGH zu einem andern Schluss als das Bundesgericht und sollte die Schweiz eine Befolgung des EuGH-Urteils ablehnen, muss sie nach dem Vertrag verhältnismässige Gegenmassnahmen der EU beim Marktzutritt akzeptieren, zum Beispiel bezüglich der Zulassung der Schweizer Forschung in EU-Projekten.

Die Landesverweisung kann sie jedoch durchsetzen, wenn sie das will.

Diese Regelung der Schweizer Landesverweisung von EU-Bürgern hält der Chefredaktor des Tagesanzeigers, Rutishauser, für unannehmbar und einer Demokratie unwürdig.

Wenn die Schweiz die SVP-Ausschaffungsinitiative in allen Fällen durchsetzen und die Regeln des EU-Binnenmarktes verletzen will, kann sie das nach dem Rahmenabkommen tun. Was daran undemokratisch und unannehmbar sein soll, harrt der Aufklärung aus dem rechtsnationalen Lager.

Arbeitslosenversicherung und Sozialhilfe

EU-Bürger, die während mehr als fünf Jahren ihren rechtmässigen Aufenthalt in der Schweiz hatten, dürfen grundsätzlich auch bezüglich der Sozialhilfe nicht diskriminiert werden.

Dasselbe gilt für Schweizer, die seit mehr als fünf Jahren rechtmässig in einem Land des europäischen Binnenmarkts ihren Aufenthalt hatten. Auch sie dürfen vom betreffenden Binnenmarktland in der Sozialhilfe grundsätzlich nicht diskriminiert werden.

Grenzgänger bezahlen heute in der Schweiz Beiträge an die Arbeitslosenversicherung. Werden sie arbeitslos, gilt aber das Wohnortsprinzip. D.h. sie müssen sich an die Arbeitslosenversicherung desjenigen Binnenmarktlandes wenden, in welchem sie wohnen.

Im Sommer 2018 haben die europäischen Institutionen, welche gemeinsam für den Erlass von Binnenmarktregeln zuständig sind, das Europäische Parlament und der Europäische Rat der Regierungen, eine Gesetzgebung auf den Weg gebracht, wonach in Zukunft die Sozialversicherung des Arbeitsorts für das Arbeitslosengeld zuständig ist.

Dass die Arbeitslosenversicherung für Beiträge und Leistungen am Arbeitsort anknüpft, ist logisch und sachlich richtig. Die vom Arbeitnehmer erbrachte Wertschöpfung kommt dem Land des Arbeitsortes und nicht dem Land des Wohnortes zugute.

Wird diese Regelung in Kraft gesetzt, bezahlen Grenzgänger weiterhin ihre Beiträge in der Schweiz, neu haben sie aber auch den Leistungsanspruch in der Schweiz nach dem schweizer Arbeitslosenversicherungsgesetz.

Diese Regelung der Arbeitslosenversicherung von Grenzgängern hält der Chefredaktor Rutishauser für unannehmbar und einer Demokratie unwürdig.

Eine irrationale, fremdenfeindliche Beurteilung.

Von schweizer Unternehmern in der EU rekrutierte Arbeitnehmer sollen aus Sicht des Tagesanzeigers in der Schweiz nur Sozialversicherungsbeiträge bezahlen, aber keine Sozialversicherungsleistungen beziehen.

Rechtsnationale Ideologie

Die europäischen Binnenmarktregeln für den Familiennachzug, die Landesverweisung und die Arbeitslosenversicherung für Grenzgänger kann man wie jede andere Regelung kritisieren. Man kann auch bessere Vorschläge machen.

Dass die Regeln unannehmbar und einer Demokratie unwürdig wären, kann man indessen nur mit ideologischen Scheuklappen behaupten.

Im Kern geht es darum, dass die Kritiker zwar den Zutritt der Schweiz zum europäischen Binnenmarkt verlangen, aber selbst bestimmen wollen, ob die Schweiz die Binnenmarktregeln, die für alle andern 31 Binnenmarktländer gelten, einhalten soll oder nicht.

Insbesondere das Diskriminierungsverbot der Bilateralen Verträge lehnen die anti-europäischen Rechtsnationalen aus der SVP ab.

Sie wollen, dass Arbeitskräfte, die von schweizer Unternehmern in der EU rekrutiert werden, gezielt schlechter gestellt werden als Arbeitskräfte mit schweizer Nationalität.

Dass schweizer Unternehmer ungehindert, je nach ihren Geschäftsinteressen, Arbeitskräfte in der EU rekrutieren, stört diese Leute nicht. Sie wollen einfach eine Schlechterstellung der Arbeitskräfte ohne schweizer Pass.

Die EU lehnt diese Position als diskriminierendes Cherry-picking ab.

Die nationalistische SVP-Position steht in offenem Widerspruch zur garantierten individuellen Grundfreiheit aller Menschen und EU-Bürger, die im europäischen Binnenmarkt leben und arbeiten.

Diskriminierungstendenz

Die Problemlage verschärft sich, weil die schweizer Gesetzgebung eine wachsende Tendenz hat, Personen aus andern europäischen Binnenmarktländer in der Schweiz zu diskriminieren (SVP Masseneinwanderungsinitiative, SVP Ausschaffungsinitiative, Ausbau des Entsendegesetzes mit administrativen Schikanen für EU-Handwerker, Ausschluss von Grenzgängern von den Leistungen der Arbeitslosenversicherung etc.).

Die zunehmend diskriminierungsfreundliche schweizer Politik, der sich neuerdings auch die Linke angeschlossen hat, stösst in den übrigen 31 Binnenmarktländern auf immer weniger Verständnis. Deren Forderung nach einem Institutionellen Abkommen hat hier ihre Ursache.

Dass die Schweiz zum europäischen Recht nichts zu sagen hat, ist selbst gewähltes Schicksal.

Sie will - wie die SVP/FDP-Koalition der schweizer Regierung immer wieder bestätigt - im Europäischen Parlament, im Europäischen Rat der Regierungen und in der Europäischen Kommission, die gemeinsam europäisches Recht erlassen, nicht vertreten sein, obwohl sie laufend europäisches Recht übernimmt.

Wenn die Schweiz übernommenes europäisches Recht nicht einhalten will, bleibt ihr nur Austritt aus dem Binnenmarkt, wie ihn die rechtsnationale SVP verlangt.

31.01.19

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