Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Prof. Astrid Epiney, Universität Freiburg/CH, publiziert in der Zeitschrift für Europarecht, 10/2024, S. J1 ff, einen Leitartikel zum Thema „Die Unionsbürgerrichtlinie: Rechtliche Tragweite und Bedeutung für die Schweiz. Gleichzeitig ein Beitrag zur dynamischen Rechtsübernahme im Rahmen der ´Bilateralen III‘.“
Der Artikel kommentiert das Common Understanding Agreement (Gemeinsame Verständigung) zwischen Bundesrat und EU-Kommission vom 27. Oktober 2023 über die Erarbeitung eines breiten bilateralen Pakets als Grundlage für die künftigen Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz.
Prof. Epinay konzentriert sich auf den Bereich Personenfreizügigkeit (Ziffer 13 Common Understanding) und dynamische Rechtsübernahme (Ziffer 9 Common Understanding).
Die interessanten Überlegungen sind Anlass, diesen Themen weiter nachzugehen.
Am 21. Juni 1999 haben die Schweiz und die EU ein Abkommen über die Personenfreizügigkeit (FZA) abgeschlossen. Das Abkommen ist am 1. Juni 2002 in Kraft getreten.
Nach 2002 haben das EU-Parlament und der EU-Rat, ohne Beteiligung der Schweiz, die folgende Rechtsakte als europäisches Recht zur Personenfreizügigkeit erlassen:
Unter Ziffer 13 hält das Common Understanding Agreement fest, dass das bestehende FZA so angepasst werden soll, dass die dynamische Übernahme bestehender und künftiger EU-Rechtsakte im Bereich der Freizügigkeit durch die Schweiz vorgesehen ist.
Unter Ziffer 8 des Common Understanding anerkennt der Bundesrat mit der EU-Kommission, „dass alle bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen als kohärentes Ganzes betrachtet werden sollen.“
Damit lehnt die SVP/FDP-Regierung die von den einheimischen Rechtsnationalen geforderte selektive Trennung der Personenfreizügigkeit von den übrigen Abkommen ab.
Dies bedeutet, dass alle bestehenden und künftigen Abkommen miteinander verknüpft bleiben und eine Kündigung des FZA die Auflösung aller Bilateralen Verträge bewirkt.
Zu den bestehenden EU-Rechtsakten, welch die Schweiz gemäss der Erklärung des Bundesrates vom 27.10.2023 mit den Bilateralen III dynamisch zu übernehmen hat, zählen die Richtlinie 2004/38 (Unionsbürgerrichtlinie, UBRL) und die Verordnung (EU) 2019/1157.
Schweizer und EU-Bürger können sich nach UBRL mit einem gültigen Personalausweis drei Monate in einem Binnenmarktland aufhalten und arbeiten. Nach drei Monaten sind Schweizer in einem Binnenmarktland und EU-Bürger in der Schweiz meldepflichtig.
Für einen legalen Aufenthalt nach drei Monate muss eine Freizügigkeitsberechtigung gegeben sein.
Freizügigkeitsberechtigt sind nach UBRL Schweizer und Unionsbürger, die sich in einem andern Binnenmarktland aufhalten
Neu gegenüber dem FZA ist das Freizügigkeitsrecht von Daueraufenthaltsberechtigten.
Prof. Epiney sieht im Daueraufenthaltsrecht der UBRL „die bei weitem bedeutendste Weiterentwicklung“ (Epinay J9) gegenüber dem geltenden FZA.
Sie ist weiter der Ansicht, die neue Regelung des Aufenthaltsrechts von Nichterwerbstätigen dürfte insgesamt den Charakter des FZA als primär die Freizügigkeit von Erwerbstätigen regelndes Vertragswerk nicht in Frage stellen (Epinay J28).
Daueraufenthaltsberechtigt nach 16 UBRL sind Schweizer und Unionsbürger, die sich seit fünf Jahren ständig rechtmässig in einem Binnenmarktland aufgehalten haben. Eine Abwesenheit von mehr als zwei aufeinander folgenden Jahren führt zum Verlust des Daueraufenthaltsrechts.
Daueraufenthaltsberechtigte und ihre Familienangehörigen sind vom Aufenthaltsstaat grundsätzlich gleich zu behandeln wie einheimische Staatsbürger (24/1 UBRL).
Freizügigkeitsberechtigte Arbeitnehmer und Selbständigerwerbende haben nach UBRL einen Anspruch auf Sozialhilfe wie die eigenen Staatsangehörigen. Das gilt bereits heute unter dem FZA.
Keinen Anspruch auf Sozialhilfe haben Schweizer und EU-Bürger nach UBRL in einem andern Binnenmarktland, wenn sie
Fällt das Einkommen von Nichterwerbstätigen nach drei Monaten Aufenthalt unter den Schwellenwert, der für den Bezug von Sozialhilfe gilt, entfallen ihre Freizügigkeitsberechtigung und damit auch der Anspruch auf Sozialhilfe. Das gilt bereits heute nach dem FZA.
Die gegenüber dem FZA neue UBRL-Kategorie der Daueraufenthaltsberechtigten wird nach europäischem Recht nicht von der Sozialhilfe ausgeschlossen.
Deshalb verlangt der Bundesrat für Nichterwerbstätige in den Bilateralen III eine Ausnahme von der europarechtlichen Daueraufenthaltsberechtigung.
Negativ betroffen sind in erster Linie schweizer Rentner und EU-Rentner, die ausserhalb ihrer Heimat in einem EU/EFTA-Land ihre dritte Lebensphase verbringen wollen.
Unter Ziffer 9 Common Understanding anerkennt die SVP/FDP-Regierung, „dass das gute Funktionieren der bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen durch eine Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme gewährleistet werden sollte“.
Rechtsübernahme meint die Übernahme von bestehendem und neuem europäischem Recht durch die Schweiz in den Bereichen des Bilateralismus, nicht aber eine Rechtsübernahme von schweizer Recht durch die EU.
Der Bundesrat anerkennt den multilateralen Charakter der EU und hält nicht an der bisherigen Fiktion fest, wonach es beim Bilateralismus um eine Beziehung zwischen zwei Völkerrechtssubjekten auf gleicher Ebene geht, die ihre Rechtsordnungen gegenseitig koordinieren.
Dynamisch bedeutet, dass die Schweiz künftige Änderungen und Ergänzungen des europäischen Rechts in den Rechtsgebieten der Bilateralen Binnenmarkt-Verträgen I - III ohne Anpassung der bilateralen Verträge zu übernehmen hat. Nur wenn neue Bereiche dem Bilateralismus unterstellt werden braucht es neue Verträge.
Aus Sicht von Prof. Epiney bezieht sich die Übernahmepflicht nur auf „Weiterentwicklungen“ derjenigen EU-Rechtsakte, die in den Anhängen der Binnenmarktabkommen erwähnt sind. Und nur auf „Weiterentwicklungen“, die Vorgaben bzw. Rechte in dieselbe Richtung fortschreiben.
Keine Übernahmepflicht bestehe, wenn neue Vorgaben oder Rechte vorgesehen werden, ohne dass ein notwendiger Zusammenhang mit den bestehenden Vorgaben besteht. (Epinay J18f)
Diese defensive Interpretation der Übernahmepflicht dürfte nicht mit der Sicht der EU übereinstimmen. Der EU-Kommission geht es mit der Übernahmepflicht um die Gewährleistung der Homogenität des europäischen Rechts im ganzen Binnenmarkt, unter Einschluss der Schweiz. Unter Ziffer 8 Satz 1 des Common Understanding hat die aktuelle SVP/FDP-Regierung diese Sichtweise der EU-Kommission anerkannt.
Alle Rechtsänderungen in den Rechtsgebieten der Bilateralen Binnenmarkt-Abkommen I - III wird die Schweiz wie ein EU-Mitgliedsland übernehmen müssen, ungeachtet in welche Richtung sie gehen und ungeachtet, ob mit dem geltenden Recht dieser Bereiche ein notwendiger Zusammenhang besteht. Ausschlaggebend ist die möglichst schnelle Wiederherstellung der Homogenität des europäischen Rechtsraums im Binnenmarkt.
Bisher geschah Rechtsübernahme abgeschottet von der öffentlichen Wahrnehmung in den Gemischten Ausschüssen durch Beamte der Schweiz und der EU, aber immerhin auf Weisung ihrer Exekutiven. Neu braucht es keine Weisung der Exekutiven mehr. Die Gemischten Ausschüsse sind praktisch nur noch Vollzugsorgane aus der EU-Verwaltung und der Bundesverwaltung im Übernahmeverfahren.
Was bleibt ist die Abschottung von der Öffentlichkeit.
Der Bundesrat hat sich im Common Understanding (Ziffer 14) erfolgreiche für ein Absicherung der Partikularinteressen der Gewerkschaften und Gewerbeverbände eingesetzt.
Die Verbände dürfen sich weiterhin ausserhalb der privatrechtlichen GAV-Kontrollen an den lukrativen gewerbepolizeilichen Kontrollen der EU-Konkurrenzbetriebe beteiligen, die in der Schweiz Aufträge ausführen wollen (sog. duales Vollzugssystem).
Die gewerbepolizeilichen Aktivitäten der Verbände sind bereits nach schweizer Recht (29/1 BV) rechtsstaatlich abzulehnen, da sie die verfassungsrechtlich geforderte Unparteilichkeit öffentlich-rechtlicher Kontrollorgane missachten.
Die in Artikel 2 des Vertrags über die EU verankerte Rechtsstaatlichkeit ist ein Grundprinzip des europäischen Rechts. Ob die EU-Organe in Staatsverträgen davon abweichen dürfen, ist offen.
Der Bundesrat will – ungeachtet der fehlenden Rechtsstaatlichkeit – die Absicherung der staatlichen Kontrolltätigkeit der Verbände, weil die Gewerkschaften gemeinsam mit der rechtsnationalen SVP die Bilateralen III ablehnen wollen, wenn ihre Befugnis, EU-Konkurrenzbetriebe zu kontrollieren, nicht festgeschrieben wird.
Prof. Epinay äussert sich nicht zu Absicherung der gewerbepolizeilichen Kontrolltätigkeit der Gewerkschaften und Gewerbeverbände im Common Understanding.
Am 28.11.2010 haben die Stimmbürger mit 52.3% den SVP-Ausschaffungsartikel 121/3-6 BV angenommen. Er regelt die zwingende Ausschaffung straffälliger Ausländer.
Der SVP-Ausschaffungsartikel verlangt im Widerspruch zum europäischen Recht (27/2-3 UBRL) die obligatorische Ausschaffung, ohne Rücksicht darauf, ob der Täter nach dem Strafvollzug eine Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstellt.
Der Bundesrat hat den SVP-Ausschaffungsartikel im Common Understanding (Ziffer 13/1) erfolgreich verteidigt. Die EU-Kommission akzeptiert die weitergehende Ausschaffungsmöglichkeit nach 121/3-6 BV als Ausnahme von der Rechtsübernahmepflicht.
Dass der SVP-Ausschaffungsartikel gesellschaftspolitisch einen besonders hohen Stellenwert hätte und daher besonderer Fürsorge der Regierung bedarf, kann hinterfragt werden. Es handelt sich um eine selektive Zusatzstrafe gegen Ausländer, ohne Präventionszweck.
Ausländer erhalten für ihre negativ bewertete Eigenschaft als Nicht-Schweizer-Staatsangehörige eine Zusatzstrafe, die nichts mit der Tat zu tun hat.
Die strafrechtliche Ahndung der fehlenden völkischen Zugehörigkeit zur Schweiz ist Teil der rechtsnationalen Ideologie.
Wenn sich EU-Bürger rechtmässig als Freizügigkeitsberechtigte fünf Jahre lang ununterbrochen in einem anderen EU-Land aufgehalten haben, erwerben sie das Recht sich dort auf Dauer aufzuhalten.
Der Bundesrat will laut Common Understanding (Ziffer 13/2) das europäische Daueraufenthaltsrecht nur Arbeitnehmern und Selbständigerwerbenden zugestehen.
Nichterwerbstätige, welche über ausreichenden Krankenversicherungsschutz und ausreichende Existenzmittel verfügen, sollen dieses Recht nicht erhalten. Das betrifft vor allem Rentner.
Aufgrund dieser Ausnahme können schweizer Rentner, welche über kein ausreichendes Einkommen mehr verfügen, aus dem EU/EWR-Land, in dem sie sich mehr als fünf Jahre aufgehalten haben, ausgeschafft werden.
Dasselbe gilt für EU/EWR-Rentner in der Schweiz.
Faktisch will der Bundesrat die ältere Generation schlechter stellen, um potentielle Sozialhilfen an EU-Bürger im Alter zu vermeiden.
Die Regelung zwingt damit auch alle schweizer Rentner, die in einem EU-Land kein genügendes Einkommen mehr haben, in die Schweiz zurück zu kehren und sich hier bei den Sozialämtern zu melden.
Vermutlich hat die SVP/FDP-Regierung subtile Rechnungen angestellt, wonach die schweizer öffentlichen Kassen im Endeffekt von dieser Ausnahme zulasten der Rentner profitieren.
Da die Hälfte der schweizer BVG-Pensionierten bei der Pensionierung ihr Alterskapital und keine Rente beziehen, ist unsicher, ob die Rechnung aufgeht.
Ältere schweizer Identitätskarten entsprechen nicht den Sicherheitsanforderung des europäischen Rechts (Artikel 3 der Verordnung (EU) 2019/1157).
Im Sinne einer Ausnahme können sie aber während einer Übergangsfrist von 11 Jahren zur Ausübung der Freizügigkeit verwendet werden, sofern sie vor dem 02.08.2021 ausgestellt worden sind.
Diese administrative Übergangsregel kann kaum als Beweis angeführt werden, wonach die Schweiz ihr Recht unter den Bilateralen III abweichend vom europäischen Recht gestalten könne.
Im Rahmen des neu dynamisch zu übernehmenden Lebensmittelrechts soll die Schweiz gewisse Ausnahmen erhalten, um geltende Standards (Tierschutz, Lebensmittelproduktion) nicht aufzuweichen.
Möglicherweise geht es um Protektionismus zugunsten der Landwirtschaft, da die EU-Standards für die Lebensmittelproduktion global zu den strengsten gehören.
Die Gewerkschaften und Gewerbeverbände haben im Rahmen der Bilateralen II 2006 durchgesetzt, dass sich Konkurrenzbetriebe aus der EU 8 Tage vor Arbeitsaufnahme mit Formular bei einer kantonalen Stelle anmelden müssen.
Primärer Zweck der Voranmeldepflicht ist es, den Verbänden die Organisation ihrer Lohnkontrollen zu erleichtern.
Die EU-Kommission betrachtete die Voranmeldepflicht seit Einführung als Verletzung des Diskriminierungsverbots von Artikel 2 FZA.
Weil der Bundesrat es ablehnte die Regel zu ändern, verlangte die EU von der Schweiz ein institutionelles Abkommen.
Laut Common Understanding (Ziffer 14/1) soll die Voranmeldefrist als Ausnahme konzediert, aber auf 4 Tage verkürzt werden.
Die EU-Kommission konzediert ausserdem Ausnahmen für schweizer Entsendevorschriften betreffend
Die Lohnkontroll-Regeln gelten nur für EU-Konkurrenzbetriebe, nicht aber für schweizer Betriebe, wo keine staatlichen Lohnkontrollen stattfinden. Sie verletzen das europarechtliche Gleichbehandlungsgebot.
Mit der Forderung nach diesen Ausnahmen anerkennt der Bundesrat die Verletzung des im FZA vereinbarten europäischen Diskriminierungsverbots.
Wären die bürokratischen Barrieren des Bundesrates gegen EU-Konkurrenzbetriebe keine Diskriminierung, bräuchte es keine Ausnahmen.
Die Ausnahmen sind primär den protektionistischen Partikularinteressen der Gewerkschafts- und Gewerbeverbände geschuldet, richten sich gegen den Wettbewerb und sollen die Lohn- und Preisinsel Schweiz absichern.
Vermutlich ein kurzatmiges Ziel.
Die Ansicht, die Schweiz habe wegen der genannten fünf Ausnahmen und der genannten Absicherung im Bilateralismus einen grösseren Gestaltungsspielraum als die Mitgliedstaaten (vgl. Epinay, S. J21 unten ), scheint sehr gewagt.
Die Mitgliedstaaten sind mit geteilter Souveränität in den europäischen Organen voll an der europäischen Gesetzgebung und Rechtsprechung beteiligt. Sie allein gestalten aktiv das europäische Recht. Die Schweiz ist im Bilateralismus davon ausgeschlossen.
Die Ausnahmen in den Bilateralen III sind defensiv, marginal und voraussichtlich auch nicht von Dauer. Sie stehen im Kontext der Politik der aktuellen SVP/FDP-Regierung, welche die europäische Integration als solche und insbesondere für die Schweiz ablehnt.
Die Ausnahmen und die Absicherung eröffnen keine Zukunftsperspektive zur Stellung der Schweiz in Europa.
Laut Ziffer 10 und 8 Satz 2 Common Understanding ist das geplante Schiedsgericht lediglich eine Durchlaufstation zur Beurteilung der Übernahmepflicht durch den EuGH.
Die Praxis des EuGH misst der homogenen Anwendung des europäischen Rechts einen hohen Stellenwert zu. Die Hoffnung, der EuGH werde die bilaterale schweizer Übernahmepflicht einschränkend interpretieren, dürfte sich kaum realisieren.
Selbst bezüglich der Ausnahmen nach Ziffer 9 Common Understanding wird es die Schweiz nicht leicht haben, die Schiedsrichter zu einer grosszügigen Auslegung zu bewegen.
Das Schiedsgericht besteht aus zwei Ausländern und einem Schweizer. Geht es um einen Stichentscheid - wie oft in Schiedsgerichten - entscheidet der ausländische Präsident aus einem aussereuropäischen Land, vielleicht ein Amerikaner, Engländer, Chinese oder Russe.
Wegen Ziffer 8 Satz 2 des Common Understanding wird er die vereinbarten Ausnahmen vom europäischen Recht einschränkend auslegen.
Dass die Regierung ihre souveränen Hoffnungen auf ein Schiedsgericht mit einer Mehrheit ausländischer Richter mit bescheidener Kognition zum Schutz von Sonderinteressen durch Ausnahmen setzt, zeigt wohin der Bilateralismus führt.
Bewohnern und Firmen in der Schweiz, die hier dem wachsenden europäischen Recht unter-worfen sind, verweigert die aktuelle SVP/FDP-Regierung im Bilateralismus den Rechtsweg an den EuGH.
Das rechtsstaatlich inakzeptable Abschneiden des europäischen Rechtswegs ist nach ihrer Ansicht ein Akt schweizer Souveränität.
Es gibt in der Schweiz eine starke Tendenz, die längerfristigen staatspolitischen Konsequenzen des bilateralen Konzepts auszublenden, zu verdrängen oder klein zu reden.
Der Bilateralismus, 1992 gefordert von den AUNS-Wortführern,FDP-NR Otto Fischer und SVP-NR Blocher, nach der gewonnen EWR-Abstimmung und umgesetzt vom Bundesrat 1999, ist heute ein von der SVP/FDP-Regierung verwaltetes Tabu, das nicht hinterfragt werden darf.
Die Tatsache, dass die Übernahme des europäischen Rechts durch die Schweiz ohne jede Beteiligung an den europäischen gesetzgebenden und rechtsprechenden Organen erfolgt, wird kaum je diskutiert. Die aktuelle SVP/FDP-Regierung lehnt eine solche Beteiligung ausdrücklich ab und kommuniziert europafeindlich.
Es sind indessen die europäischen Organe, die unter Ausschluss der Schweiz, das von der Schweiz zu übernehmende europäische Recht erlassen, auslegen und anwenden.
Unser Land ist faktisch Passivmitglied der europäischen Union ohne Stimmrecht. Die Briten haben nach dem Brexit das schweizer Konzept des Bilateralismus als Vasallenstatus abgelehnt.
Um den Bilateralismus als Dauerlösung für die Schweiz zu verteidigen, werden von den Befürwortern verschiedene Argumentationslinien verfolgt, wie:
Das europäische Recht hat bereits jetzt einen grossen Einfluss auf die Lebenswirklichkeit in der Schweiz. Dieser Einfluss wird weiter stark zunehmen. Als Produzenten, Konsumenten, Arbeitnehmer, Arbeitgeber, Rentner, Studenten, Auszubildende, Behördenmitglieder, Richter etc. sind Schweizerinnen und Schweizer mit europäischem Recht konfrontiert.
Die von der aktuellen SVP/FDP-Regierung ausgehandelten Ausnahmen und Absicherungen betreffen marginale Sonderinteressen ohne Nutzen für die Mehrheit der Bevölkerung.
Die Schweiz kann sich der Rechtsprechung des EuGH nicht entziehen. Vertragsverletzungen über Inkaufnahme von Ausgleichsmassnahmen belasten Dritte und kommen daher als Option kaum in Betracht. Das kurzfristige EU-Kündigungsrecht mit Guillotineklausel bleibt unangetastet, was relevante Vertragsbrüche gegen den deutlich stärkeren Vertragspartner faktisch ausschliesst.
Wenn europäisches Recht in der Schweiz gilt, muss den Betroffenen auch der europäische Rechtsweg an den EuGH offenstehen und darf nicht politisch unterbunden werden. Alles andere ist rechtsstaatlich unhaltbar (vgl. 29a BV).
Bilateralismus beinhaltet für die Schweiz einen laufend zunehmenden Verlust an nationaler Souveränität, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.
Der Verlust an Souveränität wird, anders als bei den EU-Mitgliedstaaten, nicht durch geteilte Souveränität und Beteiligung an der europäischen Rechtsetzung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung kompensiert.
Die Teilnahme der Schweiz am europäischen Rechtsraum hat auf individueller Ebene für Schweizerinnen und Schweizer weit überwiegend positive Effekte.
Die SVP/FDP-Regierung, anti-europäische Parteien, Gruppierungen und Medien sehen das ganz anders. Sie propagieren die Einbussen an staatlicher Souveränität, fremde Einflüsse und fremde Kulturen, Zuwanderung, Wohlstandsverluste, Demokratieverlust, Bürokratie etc.
Die Regierung kommuniziert über die EU seit 20 Jahren defensiv und negativ. Die Mainstream-Medien haben diese Tonart nach und nach übernommen.
Sie befinden sich in Gesellschaft der anti-europäischen rechtsnationalen Parteien, die in Europa existieren - wie AfD mit Weidel, FPÖ mit Kickel, Lega mit Salvini, Rassemblement National/Front National mit LePen, Fidesz mit Orban etc..In Nachfolge von SVP aBR Blocher meint SVP NR Martullo Blocher, die EU werde über kurz oder lang kollabieren, weshalb es sinnlos sei, mit ihr Verträge abzuschliessen.
In Verkennung der fortlaufenden bilateralen Rechtsübernahme wird in den Medien gelegentlich behauptet, auf dem europäischen Kontinent existierten nur in der Schweiz demokratische erlassene Gesetze.
Die EU müsse sich der Schweiz anschliessen, nicht umgekehrt. Rechtsnationaler Grössenwahn vernebelt die Recherche.
Die negative Einstellung der Regierung zur europäischen Integration begann 2003/04 mit dem Eintritt der BR Calmy-Rey (SP), Merz (FDP) und Blocher (SVP) in die Landesregierung.
Mit der Wahl der FDP BR Cassis und Keller-Sutter 2017/18 wurde die rechtsnationale Ideologie in der Regierung mehrheitsfähig, was am 26. Mai 2021 zum Abbruch der Verhandlungen mit der EU führte.
SVP BR Parmelin überbrachte die negative Botschaft der EU-Kommissionspräsidentin in Brüssel. FDP BR Cassis erklärte nach dem Abbruch, ein institutionelles Abkommen 2.0 werde es nicht geben.
FDP BR Keller Sutter meinte, die Schweiz solle als Plan B unilateral nach eigenem Gutdünken europäisches Recht anwenden. Ein Plan, der ohne EU-Äquivalenzbescheinigung für den Binnenmarktzutritt nichts nützt.
Die dynamische Rechtsübernahme ist auf staatspolitischer Ebene solange negativ zu bewerten, als sich die SVP/FDP-Regierung weigert, der Schweiz in den europäischen Institutionen (Gesetzgebung, Rechtsanwendung und Rechtsprechung) Mitbestimmung einzuräumen.
Die aktuelle Regierung propagiert seit vielen Jahren die EU und die europäische Integration als negative Erscheinung - gelegentlich auch als Feindbild.
Sie unterlässt jede objektive Information über die europäischen Institutionen. Sie muss sich nicht wundern, wenn die Stimmbürger ihre Vorlage für Bilaterale III ablehnen.
Es wird immer Bevölkerungskreise geben, welche eine mit rechtsnationalem Gedankengut geführte ethnische Volksgemeinschaft dem individuellen europäischen Freiraum vorziehen. Der Nationalismus verspricht ihnen Schutz vor allem Fremden, kollektiv einheitliches völkisches Denken und Wohlstand im Exzeptionalismus.
Das ziehen diese Kreise dem vielgestaltigen europäischen Freiraum vor.
Ihre Wohlstands- und Sicherheits-Bedürfnisse dürften indessen im europäischen Rechtsraum der Gegenwart mit den vier individuellen Grundfreiheiten und dem Diskriminierungsverbot besser abgedeckt sein, als im konfliktträchtigen nationalistischen System des 19./20. Jahr-hundert mit absoluten Souveränitätsvorstellungen und kollektivem völkischem Einheitsbrei.
Das nationalistische System hat in Europa zwei Weltkriege mit Millionen Toten verursacht. Jetzt wollen es die Rechtsnationalen in Europa wieder aufrichten.
20.11.2024