Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Wer weiss heute, was die vom Bundesrat deklarierte Neutralität der Schweiz bedeutet?
Jedenfalls besteht eine Differenz zwischen der amtlichen Neutralitätsdefinition und dem, was sich die Schweizer Bevölkerung darunter vorstellt.
Die amtliche Doktrin ist ein rational schwer erklärbares juristisches Dogma, mit vielen Finessen, wie dem „courant normal“ oder den „Umgehungsverhinderungsmassnahmen“.
Am Vorabend der Invasion des russischen Diktators in die Ukraine, am 22. Februar 2022, teilte EDA-Staatssekretärin Leu der schweizerischen Öffentlichkeit mit, der Bundesrat schliesse sich wegen der Neutralität den Sanktionen von EU und USA gegen Putin nicht an.
Es bleibe bei „Umgehungsverhinderungsmassnahmen“ wie 2014 beim Überfall Putins auf die ukrainische Krim und den Donbass.
Am 24. Februar 2022, dem Tag des militärischen Überfalls Putins auf die Ukraine, bestätigte FDP-BR Cassis die Verlautbarungen seiner Staatsekretärin.
Vier Tage später nahm der Bundesrat zur Kenntnis, dass die juristischen Finessen seiner Neutralitätsdoktrin in Europa, Amerika, in der betroffenen Ukraine und bei der Mehrheit der schweizerischen Bevölkerung kein Verständnis fanden.
Unter Aufgabe seiner bisherigen Neutralitätsdoktrin machte er wegen des innen- und aussenpolitischen Drucks eine Kehrtwende und beschloss am 28. Februar 2022, die Sanktionspakete der EU vom 23. und 25. Februar 2022 zu übernehmen.
Am Tag von Putins Überfall auf die Ukraine teilte SVP-BR Maurer im CH-TV mit, Putin sei ein strategischer Kopf, der seine Ziele verwirklichen wolle.
Sein Parteikollege Köppel meinte gleichentags, der russische Diktator werde missverstanden. Er stehe für Tradition, Familie, Patriotismus, Krieg, Religion, Männlichkeit, Militär, Machtpolitik und nationale Interessen.
Nach dem Verständnis der SVP darf die Schweiz keinen Unterschied zwischen dem Aggressor Russland und dem Opfer Ukraine machen. Insbesondere darf sie keine Sanktionen gegen ein Land aussprechen, das im Widerspruch zur UN-Charta ein anderes Land mit Militär überfällt.
Diese Bedeutung der CH-Neutralität will die SVP mit einer von aBR Blocher lancierten und finanzierten Initiative in der Bundesverfassung verankern.
Den Anhängern Putins wird so ein Rechtsmittel in die Hand gegeben, um CH-Sanktionen gegen den kriegführenden Diktator, seine Gehilfen und ihre in der Schweiz deponierten Reichtümer zu unterbinden.
Die populäre Version der Neutralität, verbreitet in Parlament und Bevölkerung, ist ein religiöses Mantra mit spiritueller Kraft, rational nicht erklärbar.
Neutralität gibt danach der Schweiz einen moralischen Mehrwert und stellt sie über die Konflikte dieser Welt. Sie erlaubt dem Finanz- und Businessplatz mit allen Regimes Handel zu treiben. Untermauert wird diese Optik mit der Hervorhebung Guter Dienste und humanitärer Hilfen, welche die Schweiz exklusiv weltweit leiste.
Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie sind in diesem Kontext – ungeachtet des UN-Völkerrechts - keine relevanten Grössen.
In diesem Mantra gründet der Glauben an den Sonderfall Schweiz als Ursache des hiesigen Wohlstands. Eine Weltanschauung, die nach verbreiteter Ansicht jedermann respektieren muss und die keiner weiteren völkerrechtlichen Begründung bedarf.
Der Exzeptionalismus der einheimischen Rechtsnationalen unterscheidet sich von analogen nationalistischen Strömungen in andern Ländern dadurch, dass er hierzulande gelegentlich eine politische Mehrheit hinter sich scharen kann.
Lange Zeit pflegten die Regierenden der Alten Eidgenossenschaft einen sehr pragmatischen Umgang mit der Neutralität, ohne juristische verbindliche Definition, der jeweiligen Situation angepasst. Intern dominierten die Konflikte zwischen katholischen und reformierten Orten. Beide hatten ihre Fürsprecher und Schutzmächte ausserhalb des eigenen Territoriums. Neutralität hatte auch den Zweck Bürgerkriege zu vermeiden.
Manchmal hatten die regierenden Patrizier damit Erfolg, manchmal scheiterten sie.
1712 leisteten sich reformierte und katholische Orte nach 1656 einen zweiten Bürgerkrieg bei Villmergen, wobei die reformierten und katholischen europäischen Grossmächten von der jeweiligen Kriegspartei um politische Unterstützung angegangen wurden. Die reformierten Orte Zürich und Bern raubten bei dieser Gelegenheit das Kloster St.Gallen aus, dessen Schutzmacht sie waren. Alles passierte wie 1656 ohne Rückgriff auf eine Neutralitätsdoktrin.
1798 marschierten zwei napoleonische Armeen über den Jura in die Schweiz, um sich am 5. März 1798 aus dem Berner Rathauskeller den Staatsschatz im Wert von Milliarden zu holen.
Am 9. September 1798 vernichtete die französische Armee unter General Schauenburg In Nidwalden die letzten Eidgenossen, die sich Napoleon nicht unterwerfen wollten. Eine Tagsatzung hatte sich zu Beginn der Revolutionskriege 1792 für neutral erklärt.
Napoleon sagte dem Schweizer Gesandten: „ Mir gegenüber ist ihre Neutralität ein Wort ohne Sinn; sie kann Ihnen nur so lange dienen, als ich es will.“ 1810 besetzte er das Tessin.
Im Januar 1814 trafen sich der österreichische Kaiser, der russische Zar und der preussische König in Basel, um den Marsch auf Paris zu koordinieren. Die Tagsatzung reagierte auf dieses Ereignis nicht mit einer Neutralitätserklärung, sondern mit der Aufhebung der napoleonischen Mediationsverfassung.
Die neutrale Schweiz des Bundesvertrags griff im Juli 2015, nach der Niederlage Napoleons bei Waterloo, auf Befehl der Tagsatzung Frankreich an. Ein Abenteuer, das nach 20 Kilometer im Jura in einem Desaster endete.
Die heutige amtliche Neutralitätsdoktrin stammt ideologisch aus dem Zeitalter der napoleonischen Kriege und erlebte ihre Geburtsstunde 1815 mit der Neutralitätsgarantie der europäischen Grossmächte.
Aus Sicht der damals in der Schweiz Regierenden sollte die Neutralität die Eidgenossenschaft in den künftig zu erwartenden innereuropäischen Kriegen vor militärischen Invasionen der europäischen Grossmächte, Frankreich und Habsburg-Österreich, später auch Deutschland und Italien, bewahren.
Die Siegermächte der napoleonischen Kriege garantierten am 20. November 1815 in Paris der Schweiz Neutralität. Sie erklärten, die Neutralität der Kantone, die gerade erst den Bundesvertrag abgeschlossen hatten, liege im Interesse Europas.
Weder in Wien noch in Paris waren Vertreter der Kantone oder der Tagsatzung bei den Verhandlungen der Siegermächte zugelassen.
Dem Land im Zentrum Europas war von den Grossmächten die Rolle als Pufferstaat zwischen Habsburg-Österreich und dem restaurierten Frankreich zugedacht. Das entsprach der europäischen Gleichgewichtspolitik und dem Bedürfnis der Monarchen nach Absicherung ihrer alten Besitztümer und Herrschaften nach den napoleonischen Kriegen.
Die untereinander in Kriegen verwickelten europäischen Grossmächte betrachteten die Neutralität als Pflicht der Schweiz, die diese im Interesse der Grossmächte zu erfüllen habe.
Metternich leitete aus der Pariser Garantie ein Interventionsrecht Österreichs ab, falls die Schweiz anti-monarchistischen Bewegungen Raum geben sollte.
1851 erklärte der Deutsche Bund, die Schweiz sei nicht schon neutral, wenn sie keinen äussern Krieg führe, sie dürfe auch durch ihren inneren politischen Charakter den Frieden anderer Staaten nicht gefährden. Sie müsse im Sinne einer Neutralitätspflicht die Presse, Versammlungen und Flüchtlinge überwachen.
Bismarck liess die Schweiz 1889 wissen, sie solle alles vermeiden, was die Garantiemächte von 1815 verletzen könnte. Die Schweiz müsse Aktivitäten der deutschen Polizei auf ihrem Territorium dulden.
Die Schweizer Regierungen vertraten den gegenteiligen Standpunkt: Die Schweiz wähle die Neutralität aus eigenem Recht souverän und frei.
Sie könne frei entscheiden, welchen Personen sie Asyl gewähren wolle und welchen nicht. In Reaktion auf Bismarck erhielt die Bundesanwaltschaft dann allerdings ohne Erwähnung der Neutralität vom Bundesrat die Kompetenz, gegen ausländische Anarchisten und unerwünschte Ausländer vorzugehen.
Mit seiner Neutralitätsdoktrin konnte sich der Bundesrat bei den Grossmächten nie durchsetzen.
1841 hoben die Aargauer Liberalen die Klöster und Klosterschulen im Kanton auf, obwohl der Bundesvertrag den Bestand garantiert hatte. Die Benediktiner in Muri hatten das Kloster und den Kanton innert 48 Stunden zu verlassen. Sie zogen nach Gries bei Bozen im Südtirol in das heutige Benediktinerkloster Muri-Gries.
Der Kanton eignete sich entschädigungslos das Klostervermögen an. Die Kunstgegenstände verkaufte er gegen gutes Geld im Ausland.
Metternich, Kanzler der österreichischen Garantiemacht, zog eine militärische Intervention in Erwägung. Neutralität spielte keine Rolle.
Die Klosteraufhebung löste 1847 den letzten Bürgerkrieg zwischen den reformierten und katholischen Orten aus. Die reformierten Kantone hatten Freischarenzüge gegen die katholischen Kantone organisiert, worauf sich die katholischen Orte verbündeten.
Die konservativen Grossmächte Europas unterstützten politisch die katholischen Orte. Grossbritannien unterstützte politisch die reformierten Orte. Die Neutralität war im Bürgerkrieg kein Thema. Die katholischen Orte unterlagen militärisch dem Angriff der reformierten Orte.
Die Bundesverfassung von 1848 verpflichtet die Schweiz nicht zur Neutralität. Die Tagsatzung war der Ansicht, das Instrument müsse im Landesinteresse pragmatisch gehandhabt werden, ohne Dogmatisierung in der Verfassung.
Der Bundesrat des neuen Bundesstaates berief sich auf die Neutralität, um die Tessiner Unterstützung der lombardischen Freiheitskämpfer gegen Österreich-Ungarn zu unterbinden. Im gleichen Sinn richtete er sich wegen der Neutralität gegen badische und schweizerische Republikaner, welche 1849 die Monarchie im Königreich Baden bekämpften.
Der Deutsche Bund war der Ansicht, wegen der Neutralität sei die Schweiz gegenüber den Monarchen der Garantiemächte von 1815 verpflichtet, republikanische Gegner aus dem Land auszuschaffen.
Auf Druck von England und Frankreich im Kontext des zweiten Italienischen Unabhängigkeitskriegs beantragte der Bundesrat 1859 dem Parlament, die Anwerbung von Söldner in der Schweiz unter Strafe zu stellen.
Von den 12‘000 Schweizer Söldner im Dienste des Königreichs Neapel kehrten 7000 zurück in die Schweiz. Tausende Schweizer Söldner kämpften noch bis 1914 in der niederländischen Kolonialarmee in Indonesien, hunderte traten in den Dienst des Papstes im Kirchenstaat.
In Zusammenhang mit dem Handel zwischen Frankreich und Italien über Nordsavoyen erklärte Kaiser Napoleon III 1860 die Verträge von 1815 für aufgehoben. Der Bundesrat hatte versucht, Teile Nordsavoyens der Schweiz anzugliedern.
Im deutsch-französischen Krieg unterblieb ein befürchteter Durchmarsch der Franzosen nach Südbaden. Die französische Bourbaki-Armee mit 120‘000 Mann war daran gescheitert, die von Deutschen eingeschlossene Festung Belfort zu befreien. Sie wurde in die Schweiz abgedrängt.
Bei der Aufnahme, Entwaffnung und Internierung einer fremden kriegführenden Armee spielte das Thema Neutralität im Sinne der heutigen Neutralitätsdoktrin keine Rolle.
An der ersten Haager Konferenz von 1899 lehnte der Bundesrat jede internationale Regelung der Neutralität ab, welch die Schweiz völkerrechtlich verpflichten könnte. Er hielt an der bisherigen pragmatischen Führung der Neutralitätspolitik je nach Interessenlage fest.
1907 änderte die Regierung ihre Ansichten und stimmte der acht Jahre zuvor abgelehnten Regelung zu.
Sie meinte, die Schweiz dürfe sich nicht vom Mainstream der Grossmächte ausschliessen. Diese waren wie 1815 an einer völkerrechtlichen Regulierung der Neutralität für den Fall innereuropäischer Landkriege interessiert. Solche Kriege galten damals als völkerrechtlich legitimes Mittel zur Durchsetzung nationaler Machtinteressen.
Damit hielt die juristische Dogmatik in die Neutralitätspolitik Einzug, fremdbestimmt durch die V. Haager Konvention von 1907.
Im Versailler Friedensvertrag verpflichteten die Siegermächte die Schweiz, ohne deren Beteiligung, zur Neutralität im Sinne ihrer Garantien von 1815.
1920 trat die Schweiz dem Völkerbund bei. Die Siegermächte befreiten sie 1920 in der Londoner Erklärung von der Pflicht, militärische Sanktionen gegen einen Friedensbrecher mitzutragen. Die Schweiz wurde aber verpflichtet, wirtschaftliche Sanktionen des Völkerbunds zu übernehmen.
Der Bundesrat hatte in seiner Neutralitätsdoktrin den wirtschaftlichen Bereich stets ausgeklammert.
Im Kontext des Versailler Vertrags, der Deutschland die Waffenproduktion verbot, verlagerten deutsche Rüstungsfirmen ab 1923 Betriebe in die Schweiz und gaben damit der schweizerischen Maschinenindustrie mit hochwertiger deutscher Waffentechnologie einen bedeutenden Schub.
U.a. wurde damals die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon für die Produktion der deutschen 20-mm-Maschinenkanonen gegründet. Ab 1940, nach Kriegsbeginn, exportierte die Firma Oerlikon die Kanone in grosser Zahl nach Deutschland.
Auch Rheinmetall, Siemens, Dornier, MAN und Zeiss-Wild verlegten aufgrund des Waffenkonstruktionsverbotes des Versailler Vertrags die Produktion in die Schweiz. Das in der Schweiz von deutschen Ingenieuren entwickelte Maschinengewehr MG-34 gehörte zu den am weitesten verbreiteten Waffen im 2. Weltkrieg.
Herstellung und Vertrieb von Rüstungsgütern unterlagen in der Schweiz bis 1938 keiner Kontrolle.
Im spanischen Bürgerkrieg verbot der Bundesrat Waffenlieferungen an beide Parteien, an die Faschisten und an die Republikaner.
1927 kommt Artikel 92 ins Militärstrafgesetzbuch:
Die Strafrechtsnorm basiert auf der damals gängigen völkerrechtlichen Ansicht, das Führen von Kriegen in Europa allein aus Machtinteressen sei völkerrechtlich legitim. Feindseligkeiten gegen einen Kriegführenden müssten daher wegen der Neutralität unter Strafe gestellt werden.
Nach den Erfahrungen des 2. Weltkriegs gab die internationale Rechtsgemeinschaft mit der UN-Charta die Ansicht auf, Kriegführung aus Machtinteressen sei völkerrechtlich legitim.
Die Schweiz behielt ihre abweichende völkerrechtliche Sichtweise bei, ebenso wie Artikel 92 des Militärstrafgesetzbuchs. Das Gesetz hat den strafrechtlichen Schutz von Kriegführenden – jetzt zum Beispiel des Diktators Putin - zum Gegenstand, ungeachtet ob es sich um einen völkerrechtswidrigen Aggressor handelt.
Um deutsche Aufträge zu erhalten, bestätigten Schweizer Firmen schon Jahre vor Kriegsbeginn den deutschen Behörden, dass sie keine Juden sondern nur arische Mitarbeiter beschäftigen. Das EDA meinte zur Abgabe solcher Erklärungen, es handle sich um eine Frage der geschäftlichen Zweckmässigkeit, die von den Firmen selbst zu beantworten sei.
Jüdische Verwaltungsräte in deutschen Tochterfirmen Schweizer Konzerne wurden ersetzt.
1934 führte die Schweiz das strafrechtlich geschützte Bankgeheimnis ein, weil zuvor Bankangestellte französischen und deutschen Steuerbehörden Informationen übergeben hatten.
1938 vereinbarte der Bundesrat mit Deutschland, die Pässe von Juden mit einem Judenstempel zu versehen, um selektiv ab Oktober 1938 für deutsche „Nichtarier“ die neu eingeführte schweizerische Visumspflicht durchzusetzen. Ebenso beschloss er am 18. August 1938 Flüchtlinge aus den Achsenstaaten ohne Visum ausnahmslos abzuweisen.
Vor dem 2. Weltkrieg tauchte in den totalitären Staaten Deutschland und Italien die alte Forderung auf, die Schweizer Regierung sei aufgrund der Neutralitäts-Garantie der Siegermächte von 1815 verpflichtet, Kritik am Totalitarismus zu unterbinden und politischen Flüchtlingen Asyl zu verweigern.
1938 propagierte der Bundesrat aus Gründen der Souveränität eine Rückkehr zur uneingeschränkten Neutralität. Er teilte dem Völkerbund mit, die Schweiz wolle wirtschaftliche Sanktionen des Völkerbunds gegen Friedensbrecher nicht mehr mittragen.
Die Faschisten in Berlin und Rom begrüssten den Entscheid. So konnten sie die wirtschaftlichen Sanktionen des Völkerbunds über die Schweiz umgehen, was für die Vorbereitung des Angriffskriegs nützlich war.
Unter formaler Beibehaltung der Neutralitäts-Doktrin war die praktische Handhabung 1939 bis 1945 auf tiefstem Niveau.
Kurz nach Kriegsausbruch, im September 1939, plante General Guisan die Zusammenarbeit mit der französischen Armee. Auf Gesuch der Schweiz sollte die französische Armee über den Jura ins Mittelland einmarschieren. Die Meinung des Generals war, die Schweiz sei aufgrund der Neutralitäts-Garantien der Siegermächte von 1815 völkerrechtlich verpflichtet, ihr Territorium zu verteidigen und dürfe dazu auch die Hilfe einer Kriegspartei in Anspruch nehmen.
Am 9. Oktober 1939 befahl Hitler den Angriff auf Frankreich durch die neutralen Staaten Belgien, Luxemburg und Holland. Zuvor hatte er diesen Staaten – wie der Schweiz – zugesichert ihre Neutralität zu wahren.
Im November 1939 griff Stalin das neutrale Finnland an. Deutschland folgte im April 1940 mit dem Angriff auf die neutralen Länder Dänemark und Norwegen.
Nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 gaben Bundesrat und General die Landesverteidigung ab der Grenze zugunsten eines Rückzugs der Armee auf befestigte Stellungen in der Zentralschweiz auf (sog. Reduit).
Die Neutralitätsmaxime spielte – angesichts der Umfassung durch die Achsenmächte – bis Ende des Kriegs praktische keine Rolle mehr.
Weder in der Kriegführung der Achsenmächte, noch in jener der Alliierten hatte die Haager Konvention von 1905/1907 eine Bedeutung, obwohl sich der Bundesrat immer wieder darauf berief.
Angesichts der fehlenden Mittel verzichtete der General ab Juni 1940, Verletzungen des schweizerischen Luftraums mit Kampfflugzeugen zu bekämpfen. Die alliierten Bomber überflogen ungehindert das Land und bombardierten die süddeutschen und oberitalienischen Städte. Auf Beanstandungen der Schweizer Regierung reagierten die Alliierten mit der Ansicht, ohne ihre Kriegführung gebe es keine Freiheit, Unabhängigkeit und Neutralität für die Schweiz.
Auf Forderung der Achsenmächte verfügte der Bundesrat im November 1940 die Verdunkelung der Schweiz.
Im August 1940 startete Hitler die Luftschlacht gegen England und 1941 griff er die Sowjetunion an. Beides bewirkte eine militärische Entspannung in der Schweiz, weil das deutsche Militär anderweitig gebunden war.
Im August 1940 schloss der Bundesrat mit dem kriegführenden Deutschland ein Handelsabkommen ab. Die schweizerische Exportwirtschaft orientierte sich 1941 bis Anfang 1944 in Richtung Achsenmächte.
Der Bundesrat räumte Deutschland und Italien Clearingkredite von 1.21 Milliarden CHF ein. Die deutsche und die italienische Armee konnten damit in der Schweiz Rüstungskäufe tätigen. Primär ging es um Waffen, Munition, Zünder, Maschinen, Aluminium, chemische, pharmazeutische Produkte, Textilien.
Insgesamt exportierte die Schweiz während des 2. Weltkriegs an die Kriegführenden Waffen im damaligen Wert von rund einer Milliarde Franken, wovon gegen 80% an die Achsenmächte. An der Spitze stand mit rund der Hälfte der Exporte die Werkzeugmaschinenfabrik Oerlikon-Bührle + Co.
Die Achsenmächte wickelten ihre internationalen Gold- und Devisentransaktionen und ihre internationalen Kreditgeschäfte unter Verwendung des Frankens über die Schweiz ab, um die Wirtschaftsblockade der Alliierten zu umgehen.
Für Gold war die Schweizerische Nationalbank Haupthandelsplatz. Auch Raubgold fand hier den Kanal auf die internationalen Märkte. Die SNB-Direktoren waren der Ansicht, das Völkerrecht erlaube den deutschen Besatzern die Beschlagnahme fremden Goldes.
Nach Kriegsende 1946 hatte die Schweiz auf Druck der Alliierten CHF 250 Mio. für geraubtes belgisches Gold zu bezahlen.
Den Rüstungsbetrieben der Achsenmächte gewährten Schweizer Banken Kredite. Über Schweizer Institute wurden geraubte Wertschriften (ca. 50 – 100 Mio. CHF) weiter verkauft.
Der Bundesrat tolerierte den Warenverkehr der Achsenmächte durch Gotthard und Simplon. Gegen 40 Züge beladen mit Kohle fuhren die Deutschen 1939 – 1942 täglich durch die Schweiz nach Italien. Kontrollen der Ladungen nach der Haager Konvention setzten erst nach 1943 ein. Kohle war nach Ansicht des Bundesrates kein Kriegsmaterial.
Den Alliierten diente die Schweiz als Spionagestandort. Die Wirtschaftsbeziehungen reduzierten sich auf ein Minimum.
1948 meinte FDP-BR Petitpierre, die Schweizer Neutralität sei an eine Kriegssituation gebunden. Im Frieden habe sie grundsätzlich keine Bedeutung.
Diese These lässt sich indessen im Kontext der Regierungspolitik der Schweiz im 2. Weltkrieg nicht verifizieren. Neutralität war während des Kriegs im Sinne einer Gleichbehandlung der Kriegführenden nicht umsetzbar.
In der Amtszeit von FDP-BR Petitpierre als Aussenminister (1944 – 1961) entstand die heute noch angewendete dogmatische Neutralitätsdoktrin mit starren nationalistischen Konditionen.
Sie entwickelte sich zum heutigen politischen Glaubensbekenntnis der einheimischen Rechtsnationalen und ihrer Vertreter aus der SVP in Bundesrat und Parlament. Damit verbunden war die Idee, die Schweiz sei ein Sonderfall auf dem Planeten, den die andern Länder, insbesondere in Europa, als solchen respektieren müssten.
Die bundesrätliche Neutralitätsdoktrin im Kalten Krieg richtete sich von Anfang an gegen eine Teilnahme der Schweiz am neuen europäischen Multilateralismus.
Die Regierung wünschte sich in Europa eine Welt souveräner Nationalstaaten mit der Schweiz als neutraler Sonderfall.
Sie dachte, ungeachtete der Folgen des 2. Weltktiegs, weiterhin in den nationalistischen Kategorien des 19. Jahrhunderts und misstraute der deutsch-französischen Verständigung.
Die Behauptung, die Europäische Union werde bald zerfallen und der Euro in Konkurs gehen, gehört bis heute zum Anti-Europa Argumentarium der einheimischen Rechtsnationalen und hat ihre Wurzeln in der Regierungspolitik der fünfziger Jahre.
Der europäische Multilateralismus von de Gasperi (Italien), Schuman (Frankreich) und Adenauer (Deutschland) nach dem 2. Weltkrieg hatte primär drei Ziele:
Aufgrund der leidvollen Erfahrungen im 2. Weltkrieg bekannten sich neben Frankreich, Deutschland und Italien 1957 auch die ehemals neutralen Staaten Belgien, Niederlande und Luxemburg zu diesen Zielen. Die Benelux-Länder verabschiedeten sich aus der Neutralität, weil sie sich im Krieg als wertlos erwiesen hatte.
Sie waren überzeugt, dass Hitler ausschliesslich aus militärischen Gründen seinen Angriff über die Benelux-Länder und nicht über die Schweiz führte. Die Angriffsrichtung hatte nichts mit dem Neutralitäts-Status zu tun, über den alle vier Länder verfügten.
Demgegenüber erklärte FDP-BR Petitpierre schon 1946 den Benelux-Ländern, die Schweiz sei wegen ihrer Neutralität im 2. Weltkrieg nicht angegriffen worden.
Dieses Geschichtsbild verbreitete die Regierung im Land. Die Schweizerinnen und Schweizer nahmen es dankbar auf, weil die Medien der Siegermächte zur gleichen Zeit dem Land wegen seiner Geschäftsbeziehungen zu Deutschland Kriegsgewinne vorwarfen.
Die Ziele des europäischen Multilateralismus betrachtete der Bundesrat als irreal und unvereinbar mit der nationalen Souveränität.
Dieselbe Position vertrat er zur Gründung der UNO 1946. Wegen der Neutralität war die Schweiz nicht eingeladen. Anders als der Völkerbund sah die UNO in der Schweiz keinen Sonderfall.
Die UN-Charta lehnt den Krieg als legitimes Mittel zur Verfolgung nationaler Interessen ab (Artikel 2 und 4 der Charta). Die Haager Konvention von 1907 basiert dagegen auf der Annahme, Kriege seien ein legitimes Recht souveräner Staaten ihre Interessen durchzusetzen und regelt in diesem Kontext Pflichten und Rechte eines neutralen Staates im Landkrieg.
Der Bundesrat lehnt es auch nach dem UNO-Beitritt der Schweiz 2002 ab, diese grundsätzliche Änderung des völkerrechtlichen Kontextes zu akzeptieren.
Er argumentiert im Ukraine-Krieg immer noch mit der Haager Konvention und will völkerrechtlich den illegitimen Angreifer Russland gleich behandeln wie den legitimen Selbstverteidiger Ukraine. Er meint, wenn er dem Angriffsopfer Waffen zur Selbstverteidigung überlasse, müsse er auch dem illegitimen Angreifer Waffen liefern. Faktisch unterstützt er damit den völkerrechtlich illegitimen Aggressor.
Die Schweiz ist das einzige Mitgliedland der UNO, das sich in Konflikten, auch jetzt wieder im Angriffskrieg Putins auf die Ukraine, auf die durch die UN-Charta völkerrechtlich derogierte V. Haager Konvention von 1907 beruft.
Vergeblich fordert FDP-BR Cassis seine Diplomaten auf, sie müssten diese völkerrechtlich und politisch nicht mehr haltbare Position den übrigen UN-Mitgliedstaaten verständlich machen.
Der Bundesrat verbaute der Schweiz mit seiner dogmatischen Neutralitäts- und Souveränitätsdoktrin während Jahrzehnten den Zugang zu den neu entstandenen multilateralen Organisationen, wie EWG, EU, NATO, UNO, WTO etc.
Eine Ausnahme bildete die OECD. Dieser Organisation trat die Schweiz 1961 in Paris bei. Nach deren Statut bedürfen Beschlüsse der Einstimmigkeit. Der Bundesrat meinte, mit dieser Veto-Regelung blieben Neutralität und Souveränität der Schweiz unangetastet.
Die als ungefährlich eingeschätzte OECD zwang 2010/11 den Bundesrat im Auftrag der G-7/G-20 dazu, das grenzüberschreitende Bankgeheimnis von 1934 fallen zulassen.
SVP/BDP-BR Widmer-Schlumpf wagte es nicht, gegen den OECD-Beschluss das Veto einzulegen. Ihr Vorgänger im Amt, FDP-BR Merz, hatte wenige Jahre zuvor noch erklärt, G-7/G-20 und die OECD würden sich am schweizerischen Bankgeheimnis die Zähne ausbeissen.
Aktuell, 2023, zwingt die OECD die Schweiz im Auftrag von G-7/G-20 dazu, ihre Souveränität in der Konzernbesteuerung aufzugeben und einen Mindeststeuersatz von 15% einzuführen. Ein empfindlicher Eingriff, da zahlreiche Konzerne formell den Schweizer Steuer-Standort wegen der damit verbundenen Steuerprivilegien wählten.
SVP-BR Maurer hätte in der OECD mit einem Veto den Eingriff in die Souveränität der Schweiz unterbinden können. Er hat es nicht getan.
Nur innenpolitisch virtuell, aber ohne Konsequenz in der Realpolitik, hält der Bundesrat an seiner legalistischen Souveränitäts- und Neutralitäts-Formel fest.
Wegen seiner Neutralitätsdoktrin kam für FDP-BR Petitpierre ein Beitritt der Schweiz zum Europarat nicht in Frage. Nach seinem Rücktritt, kam es 1963 dann doch zum Beitritt, aber noch ohne Anerkennung der Menschenrechtskonvention von 1950. Ein Schritt, der erst 1974 folgte.
Noch in den neunziger Jahren kam es im Parlament zu Anträgen, die Europäische Menschenrechtskonvention sei zu kündigen, weil sie Souveränität und Neutralität der Schweiz beeinträchtige.
Eine wichtige Rolle spielten im Kalten Krieg die Juristen der EDA-Völkerrechtsdirektion. Sie trieben und übertrieben den Legalismus und präsentieren die Neutralität in den EDA-Broschüren als rechtlich unabänderliche Staatsraison.
FDP-BR Petitpierre hatte 1948 noch erklärt, für die Schweiz sei die gewöhnliche Neutralität massgeben, aus der sich in Friedenszeiten keine Pflichten ergäben.
Im Korea-Krieg 1952 bewilligte der Bundesrat dementsprechend die Lieferung von 240‘000 Boden-Luft-Raketen der Firma Bührle und 500‘000 Schuss Munition der Firma Hispano-Suiza an die kriegführenden USA, was wegen der Einseitigkeit der Bewilligung mit Artikel 9 V. Haager Konvention 1907 nicht vereinbar war.
Die Position von 1948 war ab 1954 nicht mehr massgebend. Neu galt die dauernde Neutralität. Damit sollte die aussenpolitische Handlungsfreiheit der Schweiz in Friedenszeiten in freier Wahl dauerhaft eingeschränkt werden.
Danach war es der Schweiz neu in Friedenszeiten verboten:
Schliesslich können nach der Doktrin Bürger und Medien in der Schweiz über andere Länder schreiben und sagen, was sie wollen, ohne dass die Neutralität tangiert wäre.
Die UN-Charta, die bezüglich Waffeneinsatz zwischen illegitimen Angreifer und legitimierten Verteidigern unterscheidet, ist nach der Doktrin 1954 für die Schweiz völkerrechtlich irrelevant.
Der Bundesrat bestätigte 1954 die Ansicht, dass die UN-Charta nicht mit der schweizerischen Neutralität vereinbar sei.
Gestattet ist der Schweiz nach der bundesrätlichen Neutralitätsdoktrin 1954 jeder Handel mit allen kriegführenden Ländern, unabhängig davon, ob deren Kriegführung nach der UN-Charta völkerrechtswidrig ist. Die Schweiz darf danach keine UN-Sanktionen im Sinne Artikel 103 der UN-Charta übernehmen.
In einem Versuch, diese gegen die UN-Charta gerichtete Position doch noch international abzusichern, konstruierten die Juristen und Diplomaten des Bundes den sog. „courant normal“.
Danach ist es der Schweiz gestattet, im militärischen Konfliktfall auch mit dem Aggressor den Handel und die Finanzgeschäfte weiter zu führen. Die Business- und Finanzaktivitäten dürften nur nicht ausgeweitet werden.
Im Ukrainekrieg hat sich auch diese unilaterale schweizerische juristische Finesse als völkerrechtlich unhaltbar herausgestellt.
Die SVP will den "courant normal" per Volksinitiative dennoch in der Bundesverfassung verankern, um der Schweiz Handel und Finanzgeschäfte mit einem militärischen Aggressor unter Umgehung des Völkerrechts zu ermöglichen.
Die massiv verschärfte Doktrin 1954 bezweckte vor allem, allen inländischen Strömungen, die eine Beteiligung der Schweiz an der europäischen Integration befürworteten, mit der Neutralität verbindlich einen Riegel zu schieben.
Das Argument wurde in den folgenden Jahrzehnten denn auch immer in diesem Sinne auf allen Ebenen benutzt.
In der 1957 gegründeten Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft sah der Bundesrat eine Gefahr für die schweizerische Neutralität und Souveränität sowie den Finanz- und Wirtschaftsstandort Schweiz. Eine Sichtweise, die nach einem Unterbruch in den neunziger Jahren auch im aktuellen Bundesrat vorherrscht.
Die Schweiz interessierte sich jedoch für die EFTA im Sinne eines Gegengewichts zur EWG. Die Gründung kam 1960 zustande. Grossbritannien, Dänemark und Irland traten jedoch schon bald danach in die EWG über.
Heute hat die EFTA in Europa keine eigenständige integrationspolitische Bedeutung mehr. Die Mitgliederländer Norwegen, Island und Liechtenstein haben sich mit dem EWR und das Mitgliedland Schweiz mit den Bilateralen Verträgen verbindlich an den Rechtsraum der EU gebunden.
Die Aktivität der EFTA beschränkt sich auf den Abschluss aussereuropäischer Freihandelsabkommen, möglichst parallel zur EU.
Eine gemeinsame Sicherheitsstrategie für Europa, unter Einschluss der Schweiz, lehnt der Bundesrat wegen seiner Neutralitätsdoktrin ab.
Gleichzeit nimmt die Regierung seit 1949 für die Schweiz den militärischen Schutzschirm der NATO in Anspruch. Sie weiss, dass nur dieser das Land vor einem russischen Raketenangriff schützen könnte, auch wenn ein solcher nur – wie derzeit in der Ukraine – mit konventionellen Waffen geführt würde.
Die NATO hat den schweizerischen Luftraum, ohne Rücksprache mit dem Bundesrat, in ihre Luftverteidigung integriert. In den sechziger Jahren plante die NATO, ohne Rücksprache mit Schweiz, im Falle eines russischen Angriffs Landstreitkräfte in die Schweiz zu entsenden.
Der Bundesrat hat dagegen nicht protestiert.
Das schweizerische Konzept eines konventionellen Landkriegs auf eigenem Terrain ohne eigenen Luftschirm gegen Raketen und Marschflugkörper ist mit der europäischen NATO-Strategie nicht kompatibel.
Die NATO hatte und hat zum Ziel, Europa gegen Russland an der Ostgrenze zu verteidigen, unter Einschluss des Luftraums. Dazu leistet die Schweizer Armee keinen Beitrag. Die NATO will keinen Krieg auf eigenem Terrain im Sinne der bundesrätlichen Militärdoktrin führen.
Neben den USA und Grossbritannien war der Schweizer Finanzplatz der grösste Kapitalgeber für das Apartheid-Regime in Südafrika. Der Bundesrat lehnte es entsprechend seiner Neutralitätsdoktrin 1962 ab, die Schweiz an den UN-Wirtschaftssanktionen gegen das Apartheid-Regime zu beteiligen. Aus demselben Grund lehnte er es 1973 ab, sich zum Militärputsch gegen den chilenischen Präsidenten Allende zu äussern.
Im Vietnamkrieg ab 1964 bewilligte er Waffenausfuhren an die kriegführenden USA. Im Fall des Apartheidregimes in Rhodesien kam er 1967 zum Schluss, die Schweiz müsse die UN-Sanktionen doch in Betracht ziehen, obwohl das seiner Neutralitätsdoktrin widerspreche.
Der Bundesrat lehnte es 1969 erneut ab, dem Parlament einen UNO-Beitritt zu beantragen, obwohl er in seinem Bericht eine Kehrtwendung vornahm und den Beitritt als vereinbar mit der Neutralität und mit dem Sonderfall Schweiz bezeichnete.
Nachdem er während zwanzig Jahren dem Schweizer Volk das Gegenteil kommuniziert hatte, war eine Neuorientierung damals chancenlos. Eine Parlamentsmehrheit verlangte, die UNO müsse die Schweiz wegen ihrer Neutralität von der in der Charta festgelegten Pflicht befreien, an Sanktionen gegen Friedensbrecher mitzuwirken. Eine völkerrechtlich unerfüllbare Forderung.
Die Schweiz wurde in der Nachkriegszeit auf dem europäischen Kontinent zur Enklave der EU und der NATO. Die fortschreitende politische, wirtschaftliche und militärische Integration Europas machte die Neutralitätsdoktrin im Verhältnis zu den Mitgliedstaaten der EU zu einem Nonvaleur.
Das ungebundene Recht zur Kriegführung auf dem Kontinent aus Machtinteressen und die damit verbundene europäische Gleichgewichtspolitik existieren nach den EU-Verträgen nicht mehr. Beide Punkte waren 1815 die Ursache, weshalb die damaligen europäischen Grossmächte der Schweiz für den Fall von Kriegen unter ihnen die Neutralität garantierten.
Der Bundesrat ist sich dieser Entwicklung durchaus bewusst. Er will sie aber kompensieren, indem er seine Neutralitätsdoktrin aus dem europäischen Kontext auf die globale Ebene verschiebt.
Die Schweiz soll jetzt global neutral sein, sie soll global dem Gleichbehandlungsprinzip folgen, nachdem sich die europäische Gleichgewichtspolitik im Nebel der Geschichte verflüchtigt hat und die Neutralität für die Gestaltung des Verhältnisses zu den Nachbarländern nutzlos geworden ist.
Zu dieser Sinngebung sah sich die Regierung genötigt, weil durch ihre Nachkriegspolitik gegen den europäischen Multilateralismus und gegen die europäische Integration die Neutralität zum identitätsstiftenden Staatsmantra für die schweizerische Bevölkerung geworden ist, an dem niemand ungestraft rütteln darf.
Mit der Globalisierung der Neutralitätsdoktrin setzte sich die Regierung in Widerspruch zu dem seit 1945 geltenden Völkerrecht der UNO, wonach illegitim angreifende Staaten und angegriffene Opferstaaten völkerrechtlich nicht gleich behandelt werde dürfen.
Weder auf europäischer, noch auf globaler Ebene, insbesondere nicht in der UNO, ist die bundesrätliche Neutralitätsdoktrin je zum Völkergewohnheitsrecht geworden.
Die internationale Reaktion auf die Stellungnahmen des Bundesrates vom 22. und 24. Februar 2022 zum neutralen Verhalten der Schweiz mit „Umgehungsverhinderungsmassnahmen“ im Ukrainekrieg ist ein deutlicher Beleg.
Für Gewohnheitsrecht wäre erforderlich, dass seit 1954 eine konsistente tatsächliche Ausübung der regierungsamtlichen Neutralitätsdoktrin von einer grossen Mehrheit der in der UN vertretenen Staaten wahrgenommen und anerkannt worden wäre.
Das ist nicht der Fall. Es handelt sich um eine unilaterale und nicht konsistent gehandhabte Doktrin der Schweizer Regierung, primär aus innenpolitischen Gründen, ohne mehrheitliche internationale Anerkennung.
Die Sackgasse, in die der Bundesrat mit seinem juristischen Dogma geraten ist, wird im Ukrainekrieg offensichtlich.
Die am 28. Februar 2022 beschlossenen Übernahme von EU-Sanktionen ist eine nach der UN-Charta begründete Feindseligkeit gegen den kriegführenden Aggressor Russland. Der Beschluss wird vom Aggressor mit Grund als Feindseligkeit verstanden.
Folgt nun in der Schweiz eine Strafverfolgung durch die Militärjustiz nach Artikel 92 des Militärstrafgesetzbuches?
Mit der legalistischen Neutralitätsdoktrin unter Berufung auf die Haager Konvention von 1907 und der unilateralen Verschärfung von 1954 hat sich die Regierung eine Falle gebaut, in der sie nun selbst gefangen ist.
Die Zeit der Neutralitätsdoktrin als strafrechtlich geschütztes Dogma ist abgelaufen.
Neutralität macht nur als pragmatisches Instrument der Aussenpolitik Sinn, das zurückhaltend von Fall zu Fall eingesetzt werden kann. Immer in Abwägung, dass Freiheit, Rechtstaatlichkeit und Demokratie übergeordnete Werte sind.
Als juristisches Dogma und religiöses Mantra ist sie schädlich. Der vom Bundesrat verfochtene Vorrang der Haager Konvention von 1907 vor der UN-Charta ist innenpolitiach und völkerrechtlich unhaltbar, was der Bundesrat mit seinem Beschluss vom 28. Februar 2022 implizit anerkannt hat.
10.04.2023