Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Nestlé,
die Konzernverantwortungsinititive
und die Schweizer Europapolitik



Worum geht’s bei der
Konzernverantwortungsinitiative?

Konzerne, mit Sitz in der Schweiz, zB Nestlé, sollen gesetzlich festgelegte Sorgfaltspflichten bezüglich Menschenrechte und Umweltschutz einhalten, wenn sie in fernen Ländern ihre Geschäfte machen.

Warum?

Die Geschäfte in diesen Ländern werden von der Schweiz aus gesteuert und finanziert.

Deshalb trägt die Schweiz eine Mitverantwortung, wenn dort Schäden eintreten, weil sich hiesige Konzerne nicht an die internationalen Standards in Sachen Menschenrechte und Umweltschutz halten.

Die Grundregel der Initiative lautet:

Werden nachgewiesenermassen durch Konzernaktivitäten schwere Schäden für Menschen oder Umwelt verursacht, sollen die Geschädigten den Schadenersatz vor Schweizer Gerichten geltend machen können.

Dazu kommt die zweite Regel:

Die Konzerne können sich dann vor den Schweizer Gerichten von der Haftpflicht befreien, wenn sie nachweisen, dass sie vor Ort ihre gesetzlichen Sorgfaltspflichten eingehalten haben.

Die Konzerne in der Schweiz bekämpfen beide Regeln.

Sie wollen weder verbindliche Sorgfaltspflichten, noch wollen sie vor Schweizer Gerichten nachweisen müssen, dass sie ihre gesetzlichen Sorgfaltspflichten eingehalten haben.

Die Schweizer Justizministerin, FdP-BR Keller-Sutter, hat sich der Meinung der Konzerne angeschlossen:

Weder soll es in der Schweiz verbindliche Sorgfaltsregeln, noch eine gerichtliche Kontrolle geben, wenn hiesige Konzerne in Entwicklungsländer schwere Schäden für Mensch und Umwelt verursachen.

Bundesrat und Parlament sind dem Antrag der Justizministerin gefolgt.

Jetzt hat das Volk über die Konzernverantwortungsinitiative zu entscheiden.

Was läuft in der EU?

Die Diskussion über die Sorgfaltspflichten der Konzerne bei ihren Geschäften in fernen Ländern läuft nicht nur in der Schweiz, sondern auch in der europäischen Union.

Die EU-Kommission hat verbindliche rechtliche Regeln über die Sorgfaltspflichten der Konzerne im Umgang mit Menschenrechten und Umwelt angekündigt. Sie wird solche Regeln dem Europäischen Parlament und dem Europäischen Rat zur Beschlussfassung unterbreiten.

Die entsprechende Richtlinie für Konzerne, die im europäischen Binnenmarkt aktiv sind, werden die gesetzgebenden Organe der EU voraussichtlich vor 2024 verabschieden. Die Schweizer Konzerne sind davon betroffen, weil sie im europäischen Binnenmarkt aktiv sind.

Daher werden sie jetzt in Brüssel aktiv.

Was macht Nestlé?

Im Sommer 2018 lehnte das oberste Management von Nestlé jede schweizerische gesetzliche Regelung ab, sei es durch die Initiative, sei es durch einen Gegenvorschlag.

Das Nestlé-Management vertrat die Ansicht, die Manager hielten alle Sorgfaltspflichten freiwillig ein und bräuchten keine gesetzlichen Regeln.

Im Fall von verursachten Schäden lehnten die Konzernmanager jede gerichtliche Kontrolle in der Schweiz ab. In der Meinung, diese, vom Konzern verursachten Schäden gingen die Schweiz nichts an, auch wenn die Konzerngeschäfte von hier aus gesteuert und finanziert werden.

In diesem Sinne lobbyierten sie erfolgreich bei Bundesrat und Parlament: ein klassisches Bespiel für den grossen Einfluss der Konzerne in der Schweizer Politik. Was durchaus auch mit der schweizerischen Praxis der Parteienfinanzierung zusammenhängt.

Weitere Beispiele für den Einfluss sind die extrem hohen Medikamentenpreise in der Schweiz und die langjährige Toleranz gegenüber dem internationalen Schwarzgeldverkehr über die Schweiz.

Als kleines Land kann die Schweiz gegenüber global agierenden Konzernen wenig ausrichten.

Anders läuft es in Brüssel bei der Europäischen Union.

Im Sommer 2020 begrüsst Nestlé, zusammen mit Unilever, Adidas, H+M, Tchibo, Mars, Aldi und anderen europäischen Konzernen, den Plan der Europäischen Kommission Regeln über Sorgfaltspflichten für Konzerne bezüglich Menschenrechte und Umwelt zu erlassen.

Anders als in der Schweiz fordern die Konzerne in Brüssel verbindliche Regeln für alle. Die gesetzlichen Sorgfaltspflichten sollen sich an den UNO-Standards für Menschenrechte und für Umwelt orientieren. Dasselbe verlangt die Konzerninitiative.

Weshalb sagt Nestlé in der EU Ja
und in der Schweiz Nein?

Ein Hauptargument der Gegner der Konzerninitiative geht dahin, die Schweiz könne keine Regeln über Sorgfaltspflichten erlassen, weil andernfalls die Konzerne ihren Sitz ins Ausland verlegen würden.

Das Argument hat einen wahren Kern:

Im verständlichen Eigeninteresse suchen Konzerne ihren Standort dort, wo sie am wenigsten Pflichten haben, kaum überwacht werden, wenig oder keine Steuern zahlen und die staatlichen Organe in Regierung und Parlament leicht beeinflussen können.

Weil die Schweiz diese attraktiven Konzernvorteile bietet, haben sich zahlreiche Konzerne in der Schweiz niedergelassen. Bundesrat und Parlament lehnen es in der heutigen Zusammensetzung meistens ab, Regeln zu erlassen, welche die Standortvorteile für Konzern beeinträchtigen.

Anders verhält es sich im europäischen Binnenmarkt. Dort sind die Konzerne am kürzeren Hebel und können nicht ohne weiteres damit rechnen, dass regelmässig zugunsten ihrer Vorteile entschieden wird.

Das Wegzug-Argument zieht im grossen europäischen Binnenmarkt nicht.

Im Gegenteil – die Konzerne sind in hohem Masse darauf angewiesen, dass sie weiterhin im europäischen Binnenmarkt mit über 450 Millionen Konsumenten ihre Produkte vertreiben können. Wollen sie das, müssen sie die Binnenmarktregeln einhalten, auch wenn sie ihnen nicht passen.

Das wissen die Konzerne und verhalten sich daher gegenüber den Organen der EU anders als gegenüber den Organen der Schweiz. Der Schweizer Markt ist für die Konzerne – anders als der europäische Markt – quantitativ von sehr geringer Bedeutung.

Die Schweizer Europapolitik

Hier kommt die Schweizer Europapolitik ins Spiel. Im öffentlichen Diskurs suggeriert der Bundesrat regelmässig, die Schweiz sei in der Gestaltung ihres Wirtschaftsrechts souverän.

Ob und welche Sorgfaltspflichten europäische Konzerne bezüglich Umwelt und Menschenrechte haben, wird indessen im Europäischen Parlament und im Europäischen Rat und nicht im Bundesrat und im eidgenössischen Parlament entschieden.

Die Konzernmanager von Nestlé sehen das auch so. Das bestätigt ihr unterschiedliches Verhalten in Bern und Brüssel.

In den gesetzgebenden europäischen Gremien hat die Schweiz keine Stimme und wird nicht einmal angehört.

Die gegenwärtige Regierung und die Mehrheit des Parlaments sind der Ansicht, eine Beteiligung der Schweiz an der europäischen Wirtschaftsgesetzgebung – im Sinne einer geteilten Souveränität - beeinträchtige die absolute schweizerische Souveränität.

Die Schweiz wird aber – weil sie am europäischen Binnenmarkt beteiligt ist – über kurz oder lang die europäischen Regeln zur Konzernverantwortung übernehmen, obwohl sie an der Gesetzgebung in keiner Weise beteiligt war.

In der Volksabstimmung vom 27. September 2020 über die Kündigungsinitiative der Rechtsnationalen werden die Stimmberechtigten die Schweizer Beteiligung am europäischen Binnenmarkt kaum aufgeben wollen.

BR Keller-Sutter warnt vor einem „Alleingang“ der Schweiz, obwohl gerade ein Alleingang ein Zeichen der propagierten „Souveränität“ wäre. Sie will die EU-Regelung abwarten und diese dann nach üblichem Muster in der Schweiz nachvollziehen.

Fehlender autonomer Handlungsspielraum

Die Argumente von Bundesrat und Parlamentsmehrheit im Falle der Konzernverantwortung bestätigen die Tatsache, dass die Schweiz – obwohl Nicht-Mitglied der EU – zu einer „souveränen“ Wirtschaftsgesetzgebung nicht mehr imstande ist.

Das hat mit der laufenden Entwicklung des europäischen Rechts zu tun, an der sich die Schweiz nicht beteiligen, sondern sie nur nachvollziehen will.

Aber auch mit der geografischen Lage der Schweiz als Enklave der Europäischen Union und mit dem Umstand, dass sie – im Verhältnis zur EU – eine kleine Volkswirtschaft ist.

Daher kann sie eine eigenständige Regulierung gegenüber den Unternehmen im internationalen Kontext nicht mehr durchsetzen. Das sind Fakten.

Aber:

Souveränität als Fiktion, so der politische Mainstream in der Schweiz, ist besser als jede Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung.

Solange es bei der Fiktion bleibt, bleibt auch die Schweizer Europapolitik konfus.

Ursache ist die starke Stellung der Rechtsnationalen in Regierung und Parlament. Erst wenn sich der sektiererische rechtsnationale Fundamentalismus abschwächt, kann eine Wende zur pragmatischen Europapolitik - wie sie vor der rechtsnationalen Periode sehr erfolgreich war - erwartet werden.

Unter dem geltenden Regime hat die Schweiz in Sachen Konzernverantwortung eine zeitlich limitierte Souveränität bis die gesetzgebenden europäischen Gremien in der Sache entschieden haben.

Diese, anders als von Bundesrat und Parlamentsmehrheit empfohlen, durch eine Zustimmung zur Konzerninitiative wahrzunehmen, ist kein Fehler.

23.09.2020

zur Publikation als PDF