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zu Politik und Recht

Eugen David

Institutionelles Abkommen Schweiz-EU vom Dezember 2018 - ein Durchbruch?

Die Schweiz hat am 21. Juni 1999 mit der Europäischen Union (EU) fünf Abkommen über die sektorielle Beteiligung der Schweiz am europäischen Binnenmarkt abgeschlossen (sog. Bilaterale Verträge I).

Die Abkommen über:

  • die Freizügigkeit (PFZA),
  • den Luftverkehr,
  • den Güter- und Personenverkehr auf Schiene und Strasse,
  • den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen und
  • die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen.

Die Abkommen sind seit dem 1. Juni 2002 in Kraft.

Jetzt soll ein neues Abkommen zu diesen und künftigen Verträgen mit der EU abgeschlossen werden, ein sog. Institutionelles Abkommen. In der bisherigen innerschweizerischen Debatte hatte es der Bundesrat als „Rahmenabkommen“ bezeichnet.

Wie sieht der jetzige, seit 2002 geltende, institutionelle Rahmen mit der EU aus?

Keine Autonomie in der Gesetzgebung seit 2002

Formal erwecken die Bilateralen Verträge I 1999 den Eindruck, die Schweiz habe ihre autonome Gesetzgebungszuständigkeit in den betroffenen Sektoren behalten.

Tatsächlich verhält es sich anders. Das Kleingedruckte der umfangreichen Abkommen verpflichtet die Schweiz, ihr Landesrecht der EU-Gesetzgebung anzupassen und die Binnenmarktregeln der EU zu übernehmen.

Faktisch hat die Schweiz ihre autonome Gesetzgebungszuständigkeit in den erwähnten Sektoren 1999 verloren.

Damals und später unterblieb eine offene Kommunikation dieses Sachverhalts.

Im Gegenteil - in der Botschaft zur Genehmigung der sektoriellen Abkommen 1999 erklärte der Bundesrat: “Im Unterschied zum EWR-Abkommen wird die gesetzgeberische Autonomie der Schweiz beibehalten.“

Indessen war damals wie heute offenkundig, dass der Zutritt zum europäischen Binnenmarkt nur zum Preis der Aufgabe der eigenen Gesetzgebungszuständigkeit in den betroffenen Sektoren zu haben ist.

Die formale diplomatische Vernebelungstaktik hat sich nicht bewährt, sondern das Klima des Misstrauens begründet, das bis heute vorherrscht.

Eingeschränkte Rechtsprechungsautonomie seit 2002

Auch die Rechtsprechungsautonomie der Schweiz war von Beginn weg bezüglich des europäischen Binnenmarktrechts eingeschränkt. Nach Artikel 16 des PFZA verpflichtete sich die Schweiz, für die im Abkommen verwendeten Begriffe des EU-Rechts die Rechtsprechung des EuGH zu berücksichtigen.

Das Bundesgericht war für autonom nachvollzogenes Binnenmarktrecht schon 2003 der Ansicht, es sei europarechtskonform auszulegen. Die Harmonisierung sei auch in der Auslegung und Anwendung anzustreben (BGE 129 III 350).

Mit dem Lugano-Übereinkommen 2007 haben Bundesrat und Parlament die Notwendigkeit der Berücksichtigung der EuGH-Rechtsprechung im europäisch harmonisierten Rechtsbereich ohne Wenn und Aber anerkannt (Artikel 1 Protokoll Nr.2).

Wie gelangt seit 2002 das EU-Recht in die Schweiz?

Alle Abkommen von 1999 enthalten im Wesentlichen übereinstimmende Regeln betreffend Anpassung von Vorschriften, Auslegung und Streitbeilegung.

Eine zentrale Rolle für die Übernahme von EU-Recht sowie dessen Auslegung und die Streitbeilegung spielen seit 2002 die sog. Gemischten Ausschüsse. Es sind paritätisch zusammengesetzte Verwaltungsgremien. Mitglieder sind Mitarbeiter der Bundesverwaltung und Mitarbeiter der EU-Verwaltung. Sie tagen mindestens einmal jährlich unter Ausschluss der Öffentlichkeit und sind für die ordnungsgemässe Anwendung der Abkommen zuständig.

Sie haben insbesondere die Befugnis, die Anhänge zu den Abkommen 1999 abzuändern. In den Anhängen ist das für die Schweiz geltende EU-Recht enthalten. Jahr für Jahr gelangt über diese Verwaltungsstruktur in immer grösserem Umfang EU-Recht in die Schweiz.

Die Übernahme von EU-Recht durch die Schweiz bezieht sich auf folgende Bereiche:

  1. Forschung
  2. Öffentliches Beschaffungswesen
  3. Technische Handelshemmnisse
  4. Landwirtschaftliche Erzeugnisse
  5. Veterinärwesen
  6. Luftverkehr
  7. Landverkehr
  8. Personenverkehr
  9. Schengen
  10. Dublin
  11. Zinsbesteuerung
  12. Betrugsbekämpfung
  13. Verarbeitete Landwirtschaftsprodukte
  14. Umwelt
  15. Statistik
  16. MEDIA
  17. Ruhegehälter
  18. Freihandel
  19. Versicherung
  20. Güterverkehr
  21. Jugend in Aktion und lebenslanges Lernen
  22. Europäische Satellitennavigationsprogramme

Die vom EDA herausgegebene Liste der Rechtsübernahme-Beschlüsse und Vereinbarungen umfasst aktuell 28 Seiten.

Die Gemischten Ausschüsse nehmen aufgrund der Abkommen 1999 Funktionen wahr, die nach rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht der Verwaltung (Exekutive), sondern Gesetzgeber und Richter zustehen. Die Gewaltentrennung ist aufgehoben.

Cherry Picking als Autonomie-Strategie

Der Bundesrat betrachtet dieses Rechtsetzungsverfahren als autonome Gesetzgebung. Er argumentiert formell, nicht inhaltlich, die Schweizer Exekutiv-Vertreter im Gemischten Ausschuss könnten die Übernahme eines EU-Erlasses im Sinne von "cherry picking" jederzeit ablehnen, dann komme kein Übernahme-Beschluss zustande.

Die Argumentation ist wenig überzeugend:

  • Verweigert die Schweiz die EU-Rechtsübernahme, funktioniert das Abkommen nicht mehr und die Schweiz verletzt die eingegangenen Verpflichtungen.
  • Die partielle schweizerische Abweichung von technischen oder administrativen Binnenmarktregeln produziert bürokratischen Aufwand und Kosten für die schweizerische Wirtschaft und beeinträchtigt dementsprechend deren Wettbewerbsfähigkeit.
  • Die EU beharrt auf einem ‘level playing field’. Sie akzeptiert nicht, dass einzelne Beteiligte am Binnenmarkt, z.B. mit Beihilfen, von den gemeinsamen Marktregeln abweichen, um sich Standortvorteile zu verschaffen. Die Schweiz hat dies sehr konkret mit ihren Steuerprivilegien für Konzerne und dem grenzüberschreitenden Bankgeheimnis erfahren müssen. Die in der Schweiz verbreitet Ansicht, man habe Zutritt zum europäischen Binnenmarkt und könne gleichzeitig Singapur spielen, funktioniert nicht.
  • Verweigert die Schweiz die Übernahme wesentlicher EU-Bestimmungen, riskiert sie die Kündigung aller bilateralen Abkommen durch die EU, was dem „autonomen“ Handlungsspielraum engste Grenzen setzt.
  • Zum Inhalt des übernommene EU-Rechts hat die Schweiz so oder so nichts zu sagen. Der Norminhalt ist aber Kern autonomer Gesetzgebung.
  • Die Übernahme von EU-Recht findet ohne demokratische Beteiligung statt, weder direkt noch repräsentativ.
  • Obwohl das übernommen EU-Recht Landesrecht bricht, wird es auf dem Niveau einer Verwaltungsverordnung übernommen.
  • Und schliesslich: wer an der Heimatfront landauf landab „cherry picking“ als offizielle Regierungsstrategie propagiert, muss sich nicht wundern, wenn er beim Verhandlungspartner auf Beton stösst und dieser ihm neue Abkommen und Aequivalenzbescheinigungen verweigert.

Autonomer Nachvollzug

Neben den Verträgen 1999 übt sich die Schweiz seit Abschluss der Bilateralen im „autonomen Nachvollzug“ des EU-Rechts. Grosse Teile der Schweizer Gesetzgebung werden aus eigenem Antrieb der EU-Gesetzgebung angepasst. Aktuelle Beispiele sind das Finanzmarktrecht und das Datenschutzrecht.

Die Autonomie der Schweiz im autonomen Nachvollzug reicht nicht weiter als die Autonomie eines EU-Mitgliedstaates bei der Umsetzung von EU-Richtlinien.

Werden die EU-Richtlinie nicht korrekt nachvollzogen, verweigert die EU-Kommission der Schweiz unilateral die Anerkennung der Gleichwertigkeit. Folge davon ist eine Beschränkung der EU-Unternehmen im Wirtschaftsverkehr mit der Schweiz. Das wiederum hat negative Folgen für Schweizer Unternehmen.

Dies will der Bundesrat wegen der engen Verbindung zwischen Schweizer und EU-Wirtschaft unter allen Umständen vermeiden.

Daher befolgt er im autonomen Nachvollzug die EU-Richtlinien so präzis, wie wenn die Schweiz EU-Mitglied wäre.

Die Schweiz unterscheidet sich in der Rechtsübernahme vom EU-Mitglied nur dadurch, dass sie nichts zum EU-Recht zu sagen hat, weil sie in den gesetzgebenden und rechtsprechenden EU-Gremien nicht vertreten sein will.

Streitbeilegung in den Gemischten Ausschüssen seit 2002

Die Abkommen 1999 übertragen den Gemischten Ausschüssen für das Gebiet der Schweiz nicht nur die Rechtsetzung, sondern in wesentlichem Umfang auch die Rechtsprechung im Bereich des Binnenmarktrechts.

Ensteht ein Auslegungskonflikt führt der Gemischte Ausschuss darüber eine Diskussion. Sind sich die dort anwesenden der Beamten der Bundesverwaltung und der EU-Verwaltung einig, ist der Konflikt entschieden und wird zu geltendem Recht für die Schweiz.

Bleibt Uneinigkeit im Gemischten Ausschuss kommt es zu keinem Entscheid und der Auslegungskonflikt bleibt bestehen.

Ein Beispiel:

Per 1.1.2006 hat die Schweiz in Artikel 6 ihres Entsendegesetzes den EU-Handwerkern aus dem benachbarten EU-Ausland für Arbeiten in der Schweiz umfangreiche Meldepflichten auferlegt, die acht Tage vor Arbeitsbeginn erfüllt sein müssen.

Seither macht die EU im Gemischten Ausschuss geltend, diese Regelung sei unverhältnismässig, daher diskriminierend und im Widerspruch zur vereinbarten Dienstleistungsfreiheit in Artikel 5 PFZA.

Gewerkschaften und Rechtsnationale haben diese Position der EU zum casus belli erklärt. Der Bundesrat ist ihnen mit „roten Linien“ gefolgt. Jetzt sitzt er in der Klemme, verschiebt deswegen die Unterzeichnung des Institutionellen Abkommens und lanciert eine Volksdiskussion.

Der Gemischte Ausschuss verharrt seit über 10 Jahren in Uneinigkeit über die Auslegung von Artikel 5 PFZA. Die ihm zugedachte Rolle als Streitbeilegungs-Organ will er nicht wahrnehmen. Hätten sich die Bundesbeamten und die EU-Beamten auf 4 statt 8 Tage Voranmeldefrist für Handwerker geeinigt, wäre uns das Institutionelle Abkommen 2018 erspart geblieben.

Schwer verständlich, wie man wie aus einem solchen Detail eine derartige Staatsaffäre machen kann. Die Behauptung der Gewerkschaften, die Dauer der Voranmeldefrist für Handwerker aus dem benachbarten Ausland sei ausschlaggebend für den Lohnschutz in der Schweiz, ist an den Haaren herbeigezogen. Populistischer Nationalismus hat auch auf der Linken Hochkonjunktur.

Viel wäre für die Schweiz gewonnen, wenn wenigstens die Regierung cool und pragmatisch denken würde.

Institutioneller Rahmen für die Übernahme von EU-Recht seit 2002

Seit 2002 übernimmt die Schweiz EU-Recht in vielen Gebieten, teils aufgrund der Verträge 1999, teils im autonomen Nachvollzug.

In der Auslegung und Anwendung des EU-Rechts folgen die Schweizer Behörden und Gerichte meist dem EuGH.

Das EU-Recht kommt auf dem Verwaltungsweg in die Schweiz. Parlament und Volk sind daran praktisch nicht beteiligt. Demokratie und Gewaltentrennung sind aufgehoben.

Die Schweiz hat zur inhaltlichen Gestaltung des EU-Rechts nichts zu sagen, weil sie sich - als Konsequenz des Bilateralismus – dafür entschieden hat, den gesetzgebenden und rechtsprechenden europäischen Gremien fern zu bleiben.

Eine Debatte über die Konsequenzen des Bilateralismus findet nicht statt.

Diese Lage besteht seit 2002. Was ändert das Institutionelle Abkommen 2018?

Institutionelles Abkommen 2018

Seit 23.11.2018 liegt das Institutionelle Abkommen CH-EU in der definitiven, aber noch nicht paraphierten Fassung vor. Der Bundesrat hat am 7. Dezember 2018 entschieden, darüber eine Volksdiskussion zu eröffnen.

Das Abkommen vertieft und zementiert die seit 2002 bestehende institutionelle Lage bezüglich der Übernahme, der Auslegung und der Anwendung von EU-Recht in der Schweiz.

Der Geltungsbereich wird über die bisherigen fünf Verträge ausgeweitet auf alle künftigen Verträge, beispielsweise ein künftiges Stromabkommen oder ein künftiges Dienstleistungsabkommen. Die Schweiz kann mit der EU nur noch Marktzutrittsabkommen unter diesem institutionellen Rahmen abschliessen. Das Institutionelle Abkommen geht den bestehenden Bilateralen Verträgen vor.

Für die Auslegung des Binnenmarktrechts im Gebiet der Schweiz ist ausschliesslich die Rechtsprechung des EuGH massgebend.

Die omnipotenten Gemischten Ausschüsse

Die bestehenden Gemischten Ausschüsse haben neu nicht nur Gesetzgebungs- und Rechtsprechungsfunktionen, sondern auch Aufsichtsfunktionen. Die Beamtenausschüsse überwachen die Anwendung des Binnenmarktrechts in der Schweiz, beispielsweise die Rechtsanwendung durch das Bundesgericht.

Ausserdem kommt ein neuer „horizontaler“ Gemischter Ausschuss hinzu. Dieser soll alles überwachen und koordinieren. Ausserdem kann er die Regeln über das Schiedsgericht abändern.

Die gemischten Ausschüsse unterstehen keiner parlamentarischen Kontrolle.

Die Umsetzung des Binnenmarktrechts in der Schweiz

Die Schweiz verspricht, neues EU-Binnenmarktrecht ohne Verzug umzusetzen. Wie bisher kommt das EU-Binnenmarktrecht auf dem Verwaltungsweg in die Schweiz. Wie bisher bestimmt der Gemischte Ausschuss, welche EU-Regeln die Schweiz zu übernehmen hat.

Braucht es ausnahmsweise für die Umsetzung ein Gesetz, wird der Schweiz dafür eine Frist von zwei Jahren eingeräumt, mit einer Verlängerung von einem weiteren Jahr, sofern es zu einem Referendum kommt.

Die EU-Verwaltung informiert die Schweiz in den Gemischten Ausschüsse über das zu übernehmende EU-Recht und sichert zu, dass sie bei der verwaltungsinternen Vorbereitung der Erlasse auch Schweizer Experten anhören will. In der Regel sind dies Mitarbeiter der Bundesverwaltung.

Bei den gesetzgebenden Organen der EU (EU-Parlament, EU-Rat, EU-Kommission) bestehen keine Anhörungsrechte für die Schweiz. Solche bestehen nur auf unterer Ebene der EU-Verwaltung.

Da die Schweiz nicht EU-Mitglied ist, existieren bei der Gesetzgebung auch keine Mitwirkungsrechte des Schweizer Parlamentes, wie sie nach Lissaboner-Vertrag allen Parlamenten der Mitgliedstaaten zustehen [Protokoll Nr.1 zum Lissaboner-Vertrag über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU].

Auf die Gemischten Ausschüsse hat das Schweizer Parlament keinen Einfluss, noch weniger auf die gesetzgebenden EU-Gremien (EU-Parlament, EU-Rat, EU-Kommission), die für die Schweiz laufend EU-Recht erlassen.

Selbstverständlich hat die Schweiz – als Nichtmitglied – keine Stimmrechte auf EU-Ebene, sei es in der Gesetzgebung oder der Rechtsprechung.

Quasi als Feigenblatt erwähnt das Abkommen das bereits bestehende Parlamentarische Komitee CH-EU. Die Parlamentarierdelegationen aus Schweiz und EU dürfen sich nach wie vor jährlich besuchen. Sie dürfen wie bisher die Mitteilungen der zuständigen Mitarbeiter der Bundesverwaltung und der EU-Verwaltung anhören. Zu sagen haben sie nichts.

Schiedsgericht

Neu ist das Schiedsgericht, analog zum Assoziationsabkommen EU-Ukraine und zum Brexit-Abkommen. Damit sollen Blockaden durch Auslegungskonflikte, wie sie bisher entstanden, vermieden werden.

Entsteht ein ungelöster Konflikt kann jede Partei innert 6 Monaten das Schiedsgericht anrufen, dem ein Schweizer, ein EU-Bürger und ein von beiden zu wählender Dritter angehören.

Das Schiedsgericht sitzt in Den Haag, spricht Englisch und Französisch und führt auf Begehren des Bundesrates oder der EU-Kommission einen Staatenprozess durch.

Das Schiedsgericht hat im Staatenprozess immer dann, wenn EU-Recht betroffen ist, beim EuGH eine verbindliche Vorabentscheidung einzuholen.

Da es bei den Bilateralen Verträgen praktisch nur um die Anwendung von EU-Recht in der Schweiz geht, hat das Schiedsgericht regelmässig den verbindlichen Vorabentscheid des EuGH einzuholen.

Es ist die analoge Vorlagepflicht, wie sie für jedes letztinstanzliche Gericht eines EU-Mitgliedstaates nach Artikel 267 Absatz 3 des EU-Lissabon-Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union gilt.

In der Regel wird es die EU-Kommission sein, welche das Schiedsgericht anruft, weil sie zum Schluss kommt, das Binnenmarktrecht werde in der Schweiz, z.B. durch das Bundesgericht, nicht richtig angewendet. Das Schiedsgericht steht über dem Bundesgericht. Über dem Schiedsgericht steht – mit dem vereinbarten Vorabentscheidverfahren - der EuGH.

Der Staatenprozess im Schiedsverfahren mit Vorlagepflicht an den EuGH ist eine enorm bürokratische und kostspielige Veranstaltung, ohne jeden positiven Autonomieeffekt für die Schweiz, weder in der Gesetzgebung, noch in der Rechtsprechung.

Die Lösung ist exemplarisch für die irrationalen Umwege, welche die Schweiz im Bilateralismus im Interesse der vorherrschenden rechtsnationalen Ideologie beschreitet.

Verweigerung des letztinstanzlichen Rechtsschutzes für Bürger und Unternehmen

Wenn ein deutscher Bürger oder ein deutsches Unternehmen zum Schluss kommt, von deutschen Behörden und Gerichten werde eine Vorschrift des europäischen Binnenmarktrechts über seine Produkte oder Dienstleistungen falsch angewendet, steht ihm letztinstanzlich der Weg an den EuGH offen.

Wenn ein Schweizer Bürger oder ein Schweizer Unternehmen zum Schluss kommt, von schweizerischen Behörden und Gerichten werde eine Vorschrift des übernommenen Binnenmarktrechts betreffend seine Produkte oder Dienstleistungen falsch angewendet, wird ihm der Rechtsweg zur letzten Instanz verwehrt.

Das Unternehmen muss sich an Schweizer oder EU-Beamte des Gemischten Ausschusses wenden, mit der Bitte, über einen Staatenprozess via Schiedsgericht den EuGH anzurufen. Lehnen die EU-Verwaltung und die Bundesverwaltung aus irgendwelchen Gründen den Staatenprozess ab, bleibt dem Schweizer Unternehmen der Rechtsweg an die letzte zuständige Instanz im europäischen Binnenmarktrecht definitiv versperrt.

Anders als die Gerichte in den EU-Mitgliedstaaten haben die Schweizer Gerichte weder ein Recht, noch die Pflicht zum EU-Binnenmarktrecht eine Vorabentscheidung des EuGH einzuholen.

Das aber wäre die effizienteste Lösung, um den Rechtsschutz für Schweizer Bürger und Schweizer Unternehmen im Binnenmarkt zu gewährleisten.

Der Bundesrat meint dazu, wegen der Souveränität der Schweiz müsse den Schweizern der Rechtsweg an den EuGH versperrt bleiben, obwohl in der Schweiz in grossem Umfang europäisches Binnenmarktrecht angewendet wird.

Durch das Abschneiden des Rechtswegs gewinnt die Schweiz kein Jota an Souveränität im Binnenmarktrecht, weder in der Gesetzgebung, noch in der Rechtsprechung. Einziges Ergebnis ist die Schlechterstellung der Schweizer im Rechtsschutz.

Ohne Erklärung bleibt, weshalb der Bundesrat den Schweizer Bürgern die Anrufung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) als letzte Instanz betreffend die in der Schweiz geltenden Grundrechte gestattet, ihnen aber die Anrufung des EuGH als letzte Instanz betreffend das in der Schweiz geltende europäische Binnenmarktrecht verweigert.

Subventionsrecht

Das institutionelle Abkommen regelte nicht nur institutionelle Fragen. Im 2. Kapitel übernimmt die Schweiz das EU-Beihilferecht (EU-Subventionsrecht), zunächst nur für das Luftverkehrsabkommen.

Ziel des Kapitels ist es, eine Verfälschung des Wettbewerbs im Binnenmarkt durch staatliche Subventionen zu vermeiden.

Das Kapitel gilt auch für alle zukünftigen Abkommen CH-EU über den Zutritt zum Binnenmarkt, also beispielsweise für ein künftiges Stromabkommen oder ein künftiges Dienstleistungsabkommen.

Die Schweiz ist laut Abkommen verpflichtet, ihre Subventionsgesetze dem EU-Recht anzupassen und eine unabhängige Subventions-Behörde einzurichten. Dieser müssen Subventionen an Unternehmen oder wirtschaftlich tätige natürliche Personen gemeldet werden. Die Subventionen können erst ausgerichtet werden, wenn die Behörde zustimmt.

In einer gemeinsamen Erklärung zum Institutionellen Abkommen 2018 halten die Schweiz und die EU fest, dass für die Auslegung von Artikel 23/1/iii des Freihandelsabkommens CH-EU 1972 (FHA) die Beihilferegeln des Institutionellen Abkommens (Kapitel 2) massgebend sind.

Nach Artikel 23/1/iii FHA sind staatliche Beihilfen dann mit dem FHA unvereinbar, wenn sie den Wettbewerb durch Begünstigung bestimmter Unternehmen oder Produktionszweige verfälschen oder zu verfälschen drohen.

Ausschlaggebend für die Auslegung dieser EU-Regel ist neu – über das Schiedsverfahren – der EuGH.

Die Neuerung wird auf die Subventionslandschaft Schweiz nicht ohne Einfluss bleiben, da nach EU-Beihilferecht auch Steuerprivilegien als unzulässige Subventionen gelten.

Weil sich die EU auf Artikel 23/1/iii FHA 1972 beruft, ist die Schweiz seit fünf Jahren damit beschäftigt, die bestehenden grosszügigen Steuerprivilegien für Konzerne nach Artikel 29 des Steuerharmonisierungsgesetzes abzuschaffen.

Gleichzeitig wollen Bundesrat und Parlament mit der Steuervorlage 17 neue Steuerprivilegien für Konzerne einführen.

Voraussichtlich wird in Zukunft der EuGH entscheiden, ob die neuen Privilegien der Steuervorlage 17– die eigentlich Konzern-Subventionen sind - im europäischen Kontext als wettbewerbsneutral gelten oder wieder abgeschafft werden müssen.

Schlussfolgerung

Die rechts- und staatspolitisch bedenkliche Rechtsübernahme auf dem Verwaltungsweg in grossem Umfang, ohne demokratische Beteiligung und ohne Gewaltentrennung, wird nicht durch das institutionelle Abkommen verursacht.

Ursache ist vielmehr das Schweizer Konzept des Bilateralismus.

Der Bilateralismus wurde nach der verlorenen EWR-Abstimmung vom 6. Dezember 1992 auf Druck der Rechtsnationalen eingeführt. Das Versprechen lautete: die Schweiz erhält den Zutritt zum europäischen Binnenmarkt und bleibt gleichzeitig autonom in Gesetzgebung und Rechtsprechung.

Das Versprechen war damals falsch und ist es heute noch. Der Zutritt zum europäischen Binnenmarkt ist nur zu haben, wenn die Schweiz die EU-Binnenmarktregeln – die für alle 32 beteiligten Länder gelten – in Gesetzgebung und Rechtsprechung anerkennt.

Das Institutionelle Abkommen 2018 ist dafür der beste Beweis.

Die politische Diskussion in der Schweiz sollte sich nicht über das Institutionelle Abkommen ereifern, sondern den „souveränen Königsweg Bilateralismus“ hinterfragen. Banal gesagt: die EU-Rechtsübernahme ohne Mitbestimmung.

Das aber ist in der aktuellen Regierungs-, Parteien- und Medienkonstellation tabuisiert und ausgeschlossen. Lieber überlässt man sich der Selbsttäuschung. That’s swiss exceptionalism.

14.12.2018

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