Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Am 25. April 1995 hat Umberto Eco zum 50. Jahrestag der Befreiung Italiens vom Faschismus an der Columbia Universität New York eine Rede gehalten. Im Nachgang betitelte sie die New York Review of Books mit „Eternal Fascism“.
Später erschien der Text in Italien „Il fascismo eterno“ und in Deutschland „Der ewige Faschismus“.
Umberto Eco sagt, der Faschismus ist kein historisch abgeschlossenes Phänomen der Periode Mussolini / Hitler 1922 bis 1945 sondern hat vorher schon existiert und lebt auch nach dem 2. Weltkrieg weiter.
Eco zitiert den US-Präsidenten Franklin D. Roosevelt, der am 23. September 1944 sagte: „Der Sieg des amerikanischen Volkes und seiner Verbündeten wird ein Sieg über den Faschismus und das von ihm repräsentierte Erbe des Despotismus sein.“
Der Faschismus ist Erbe des gewalttätigen und totalitären Despotismus.
Demokratisch und rechtsstaatlich organisierte Gesellschaften in Europa und anderswo sind immer wieder der Gefahr ausgesetzt, in faschistische Diktaturen abzudriften.
Vor 2400 Jahren meinte Platon pessimistisch zur Demokratie: „So kommt denn natürlicherweise die Tyrannei aus keiner andern Staatsverfassung zustande als aus der Demokratie“.
Die Geschichte hat die Richtigkeit des Satzes von Platon leider zu oft bewiesen und tut es heute noch. Mussolini und Hitler wurden als Führer faschistischer Parteien demokratisch an die Macht gewählt.
Auch in der Gegenwart besteht in- und ausserhalb Europas durchaus ein Potential für eine Entwicklung aus der freiheitlichen rechtsstaatlichen Demokratie in Richtung Diktatur. Ungarn unter Victor Orban ist mit der Aufhebung von Rechtsstaat und Gewaltentrennung und der Unterstützung des russischen Diktators Putin zuvorderst auf dem Weg.
In Italien ist ein Jahr vor der Rede Ecos die Democratia Christiana kollabiert.
Die Wahlen vom März 1994 brachten Berlusconi, zusammen mit der neofaschistischen Alleanza Nazionale, an die Macht.
Derzeit regiert in Italien Giorgia Meloni aus der rechtsnationalen Nachfolgepartei Fratelli d’Italia (FdL). Partner ist die rechtsnationale Lega von Salvini, ein Freund Putins.
Umberto Eco mag bei seiner Rede diese Entwicklungen vor Augen gehabt haben.
2024 existieren praktisch in allen europäischen Ländern rechtsnationale Parteien. In vier Ländern sitzen sie in der Regierung.
Die Rangliste zeigt folgendes Bild:
In den Wahlen zum europäischen Parlament 2024 blieben die Rechtsnationalen, entgegen ihren Erwartungen, deutlich von einer Mehrheitsposition entfernt. Aber sie haben hinzugewonnen.
Gegen ein Viertel der europäischen Wähler scheint bereit, den Rechtsnationalen die Macht in Europa zu übertragen.
In der rechtsnationalen Fraktion Patrioten für Europa (PfE) mit 84 von 720 Sitzen im Europaparlament vereinigen sich das französische Rassemblement National (RN) von Le Pen, die ungarische Fidesz von Orban, die italienische Lega Nord von Salvini, die niederländische PVV von Wilders, die österreichische FPÖ von Kickl, die spanische VOX und die tschechische ANO2011. Vorsiitzender ist Jordan Bardella, ein politischer Ziehsohn von Le Pen.
In der rechtsnationalen Fraktion Europäische Konservative und Reformer (ECR) mit 66 von 720 Sitzen vereinigen sich die italienische Partei Fratelli d’Italia (FdI) von Meloni, die polnische Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) von Kaczynski, die Allianz für die Vereinigung der Rumänen (AUR), die Schwedendemokraten (SD) von Akesson und Kleinstparteien vom rechten Rand.
In der rechtsnationalen Fraktion Europa Souveräner Länder (ESN) mit 25 von 720 Sitzen vereinigt sich die Aktion für Deutschland (AfD) von Höcke mit verschiedenen Kleinstparteien vom rechten Rand. Vorsitzender ist René Aust von der AfD. Le Pen hatte es abgelehnt, die AfD in die PfE aufzunehmen, nachdem AfD-Spitzenkandidat Krah die deutsche SS des 2. Weltkriegs in Schutz genommen hatte.
Die frühere rechtsnationale Fraktion Identität und Demokratie (ID) hat sich aufgelöst. In der PfE oder der ESN würde sich voraussichtlich die schweizer SVP ansiedeln, sollte die Schweiz der EU beitreten. Die Rechtsnationalen bilden in der Schweiz die grösste Partei im Parlament und bestimmen in der SVP/FDP-Koalition die schweizer Regierungspolitik.
Zusammen belegen die Rechtsnationalen im europäischen Parlament 175 von 720 Sitzen, was 24% entspricht, deutlich weniger als im schweizer Parlament.
Die drei rechtsnationalen Parteien PfE, ECR und ESN sind unter sich zerstritten. Sie fallen daher für eine pro-aktive Gestaltung der europäischen Politik in der Legislaturperiode 2024 bis 2029 aus.
Umberto Eco und andere benennen die Symptome des Ewigen Faschismus.
Politische Ideologien und deren Organisationen müssen nicht alle Symptome aufweisen, um sie ideologisch dem Faschismus zuzuordnen. Insbesondere gibt es unterschiedliche Entwicklungsstadien. Diese gilt es anhand von Merkmalen frühzeitig zu erkennen, will man das Endstadium vermeiden.
Zu den Symptomen des Ewigen Faschismus gehören:
In russischen Staatsmedien fordern derzeit Gehilfen des Diktators Putin eine rasche Auflösung der Europäischen Union mit militärischer Gewalt, damit Moskau in europäischen Nationalstaaten – wie zu Sowjetzeiten - totalitäre, moskauhörige Regimes installieren kann.
Alle rechtsnationalen Parteien in europäischen Ländern kämpfen für den Zerfall der EU, auch die schweizerische SVP und die dortigen Putin-Freunde. Deren Wahlerfolge lösen in Moskau Freude aus. Das Putin-Regime hofft auf einen Zerfall der EU durch die Rechtsnationalen, was einen russischen Militäreinsatz erübrigen würde.
Der Fortschritt rechtsnationaler Parteien in Europa und die Übernahme von Eigenschaften des Ewigen Faschismus hängen nicht primär von den Parteiführern ab, sondern von den Wählern, Anhängern, Mitläufern und Trittbrettfahrern in öffentlichen Ämtern.
Medien, die rechtsnationale Ideologien fördern und damit digital und auf Papier ihr Geschäft machen, treiben die Entwicklung voran.
Sie alle können selbst prüfen, inwieweit der Ewige Faschismus in ihrer Partei, ihrer Organisation und ihrem Umfeld bereits gediehen ist.
Es gibt eine persönliche Verantwortung, vor allem der Amtsträger, für die Zukunft einer freiheitlichen, demokratischen und rechtsstaatlichen Gesellschaft in Europa und für die Abwehr von Nationalismus und Despotie.
Karl Popper sagt: "Die Toleranten werden vernichtet, wenn die Intoleranten toleriert werden."
04.08.2024