Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Europapolitik im Wahljahr 2015

Schweiz im europäischen Binnenmarkt

Bleibt die Schweiz im europäischen Binnenmarkt?

Das ist die aussen- und wirtschaftspolitische Kernfrage der nächsten Legislatur. Nicht die von der rechtsnationalen SVP bevorzugte Frage der Umsetzung ihrer Masseneinwanderungs-Initiative [MEI].

EU-Mitgliedschaft, EWR-Mitgliedschaft oder Bilaterale Verträge: immer geht es um das Gleiche, um die Beteiligung am europäischen Binnenmarkt.

Unterschiede bestehen lediglich in Ausmass und Form der Beteiligung.

Im EWR und im schweizer Bilateralismus sind einige Bereiche ausgeschlossen, wie Landwirtschaft, Fischerei, Steuern, Aussenhandel und Währung.

Für die CH zusätzlich noch teilweise Dienstleistungen und Wettbewerbsrecht.

Und in der Form: EWR-Länder und die CH sind von den europäischen Entscheidungs-Gremien des Binnenmarktes ausgeschlossen.

Die Schweiz hat im Fall der Steuern eben erst schmerzlich erfahren müssen, dass der Ausschluss von Politikbereichen nur beschränkt wirksam ist, sobald Binnenmarkt-Prinzipien tangiert werden.

Am 14. Oktober 2014 hat der Bundesrat der EU versprechen müssen, die schweizer Steuerprivilegien für Briefkastengesellschaften wegen Verletzung der Wettbewerbsneutralität im Binnenmarkt aufzuheben.

Er hat damit nach dem Bankgeheimnis eine weitere heilige Kuh auf Begehren der EU ohne Beteiligung der Stimmbürger geschlachtet.

Binnenmarkt-Prinzipien sind:

  • Freizügigkeit für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital
  • gleiche Wettbewerbsbedingungen für alle Beteiligten,
  • Nichtdiskriminierung aufgrund der Nationalität.

Um Konflikte mit den Prinzipien zu vermeiden, betreibt die Schweiz heute - ausserhalb der Bilateralen - im Regelfall schnell und unbemerkt den autonomen Nachvollzug auf dem Verwaltungsweg, was weder souverän noch demokratisch ist.

Mit immer mehr Ermächtigungsnormen im nationalen Recht lässt sich der Bundesrat die Befugnis einräumen, europäisches Recht unilateral auf dem Verwaltungsweg ohne Aufsehen in die Schweiz zu importieren.

Europäisches Recht

Selbstverständlich ist die Schweiz frei, sich am Binnenmarkt zu beteiligen oder nicht. Niemand zwingt sie dazu.

Soweit sie sich beteiligt, muss sie allerdings das europäische Recht einhalten. Daran führt kein Weg vorbei.

Ausserdem haben wir das politische Faktum zur Kenntnis nehmen müssen, dass die EU immer weniger geneigt ist, Verletzungen der Binnenmarkt-Prinzipien durch die Schweiz ausserhalb der Bilateralen (Bsp. Steuern, Finanzmarkt, Wettbewerbsrecht) zu akzeptieren.

Die Schweiz kann kein europäisches Recht erlassen. Sie muss das europäische Recht laut den Bilateralen Verträgen so übernehmen, wie es von den EU-Gremien (Parlament, Rat, Kommission) erlassen worden sind.

Durch die Ablehnung der EU-Mitgliedschaft bei gleichzeitiger Beteiligung am Binnenmarkt verzichtet die Schweiz unilateral freiwillig darauf, sich an der europäischen Rechtsetzung zu beteiligen.

Der Binnenmarkt ist ein dynamisches Gebilde. Regeln werden laufend ausgelegt, angewendet, angepasst.

Die Schweiz ist mit der Tatsache konfrontiert, dass sie in grossem Umfang Recht übernehmen muss, ohne an der Rechtsetzung und Rechtsauslegung beteiligt zu sein.

Das Bundesgericht hat das europäische Recht, einschliesslich der sich weiter entwickelnden Rechtsetzung und EuGH-Rechtsprechung, für die Schweiz als massgebend anerkannt (BGE 129 III 350, BGE 136 II 5).

Der betriebene Parallelismus mag pragmatisch sein hat aber zur Konsequenz, dass sich unter dem Regime der Bilateralen die Legitimationsprobleme laufend verschärfen.

Neue bilaterale Verträge im institutionellen Bereich (sog. Rahmenabkommen) ändern daran nichts. Im Gegenteil: die Legitimationsfrage stellt sich noch schärfer.

Die Schweiz muss sich Organisationen und Organisationsrecht unterziehen (EuGH oder EWR-Gerichtshof, Überwachungsbehörde etc.), ohne an der Regelung und Aufsicht dieser Strukturen beteiligt zu sein.

Auch hier sucht der Bundesrat den bilateralen Ausweg in hochkomplexen Parallelstrukturen, im Wissen, dass diese keinen eigenen Handlungsspielraum haben, sondern an die Entscheide der EU-Organe gebunden, faktisch diesen unterstellt sind. Damit sollen die Bilateralen innenpolitisch gerettet werden.

Man kann es auch anders sehen: die Schweiz gerät mit dem bilateralen Pragmatismus immer weiter in den Sumpf einer einseitigen Abhängigkeit.

Eine möglichst gute Tarnung dieses Sachverhalts mit viel diplomatischem Aufwand kann kein staatspolitisches Ziel sein.  

Die Bilateralen sind weder souveränitäts- noch demokratiepolitisch ein Zukunftsmodell. Sie sind das lahme Pferd der Rechtsnationalen aus der EWR-Abstimmung 1992, von dem sich diese allerdings längst verabschiedet haben.

Warum die Mitteparteien und der Bundesrat, in Nachfolge der Rechtsnationalen, dieses Modell zum Dogma erheben, bleibt ein Rätsel.

Der Bundesrat legt in allen andern internationalen Organisationen (WTO, ILO, OECD, OESZE etc.) grössten Wert darauf, dass die Schweiz am Regulierungs- und Steuerungsprozess beteiligt ist.

Im weitaus wichtigsten Fall, im europäischen Binnenmarkt, verzichtet die Regierung auf jede Beteiligung an der Regulierung, unterwirft sich bilateral und unilateral dem europäischen Recht und beschreibt das Ganze als Königsweg.

Homogenität

Der Bundesrat hat bereits vor zwei Jahren (ohne Parlament) anerkannt, dass das europäische Recht im gesamten Binnenmarkt homogen ausgelegt, angewendet und durchgesetzt werden muss, auch in der Schweiz.

Damit hat er sich dem Standpunkt der EU angeschlossen. Aufgrund der Einsicht, dass nur so ein nach dem Prinzip "Rule of Law" organisierter Binnenmarkt funktionieren kann.

Eine supranationale oberste Instanz muss mit Rechtswirkung für den gesamten Binnenmarkt das europäische Recht letztinstanzlich auslegen.

Die Anwendung dieser Auslegung muss durch eine supranationale Behörde im gesamten Binnenmarkt durchgesetzt werden.

Das gilt heute für die EU-Länder genauso wie für die EWR-Länder. Anders lassen sich Binnenmarktfreiheiten, Wettbewerbsneutralität und Nichtdiskriminierung nicht realisieren.

Personenfreizügigkeit

Mit dem Diskriminierungsverbot schliesst das europäische Recht für den Bereich der Personenfreizügigkeit Kontingente und Inländervorrang (oder - gemäss Verfassungstext - "Schweizer"-Vorrang) aus.

Die von Economiesuisse und EDA a.Staatssekretär Prof. Michael Ambühl vorgeschlagene sog. "Schutzklausel" ist - wie die SVP-Masseinwanderungsinitiative - ein Kontingentsystem.

Das Label "Schutzklausel" ändert daran nichts. In den Bilateralen war ein Kontingentsystem als "Schutzklausel" für eine Übergangszeit vereinbart worden.

Die Übergangszeit ist abgelaufen. Für die Schweiz gelten nach der Übergangszeit - wie für alle andern 31 am Binnenmarkt beteiligten Länder - die normalen Personenfreizügigkeitsregeln des europäischen Binnenmarktes.

Ob und wie diese Regeln geändert werden, liegt ausserhalb des Einflussbereichs der Schweiz. Bis heute werden von keinem stimmberechtigten Binnenmarktland Änderungen im Kernbereich der Personenfreizügigkeit verlangt.

Die Briten verlangen strengere Regeln gegen die Einwanderung in die Sozialsysteme, zB eine vierjährige Karenzfrist für den Bezug von Arbeitslosengeld oder ein Ausschaffungsrecht für Arbeitslose.

Das hat mit Kontingentierung und Inländervorrang, wie in der Masseneinwanderungsinitiative der rechtsnationalen SVP oder der „Schutzklausel“ von a.Staatssekretär Prof. Ambühl vorgesehen, nichts zu tun.

Natürlich kann man mit den schweizer Rechtsnationalen darauf setzen, dass sich in Zukunft alles ändert und in der EU die rechtsnationalen Schwester-Parteien der SVP – wie der Front national, die UKIP, Straches FPÖ, Geert Wilders Partij voor de Vrijheid oder die deutsche AfD von Gauland und Höcke - die Oberhand gewinnen.

Die Geschichte sollte uns gelehrt haben, dass ein ausufernder Nationalismus in Europa die grösste Gefahr für die Schweiz darstellt.

Sonderfall Schweiz

Ein Sonderfall Schweiz existiert nur im innenpolitischen Diskurs der Regierung und der rechtsnationalen Parteien, aussenpolitisch hat er sich längst aufgelöst und findet keine internationale Anerkennung.

Die rechtsnationale SVP hat unter Führung von SVP aBR Blocher die Masseneinwanderungsinitiative (MEI) lanciert, um den Austritt der Schweiz aus dem europäischen Binnenmarkt zu erzwingen.

Mit der knappen Annahme der Initiative am 9. Februar 2014 sind SVP-aBR Blocher und seine SVP ihrem Ziel näher gerückt, aber sie haben es noch nicht erreicht.

Die in den Mitteparteien und den Wirtschaftsorganisationen verbreitete Ansicht, die Schweiz könne sich am Binnenmarkt beteiligen, aber gleichzeitig Ausnahmen vom europäischen Recht für sich beanspruchen, hat keine reale Grundlage.

Jedenfalls gilt das für jene Regeln, an die sich – wie im Falle der Personenfreizügigkeit - alle andern 31 Länder halten müssen.

Die EU-Kommission, der EU-Rat und das EU-Parlament haben dies der Schweiz wiederholt in offiziellen Dokumenten mitgeteilt.

Je mehr die Mitteparteien und die Wirtschaft eine Sonderfall-Behandlung fordern, umso mehr werden die EU-Organe auf ihren institutionellen Forderungen beharren, die Homogenität im Binnenmarkt gewährleisten sollen.

Sonderfall und Homogenität stehen in offenem Widerspruch.

Jedes Binnenmarktland hat mit einzelnen oder mehreren Binnenmarktregeln kleinere oder grössere Probleme (siehe aktuell Griechenland).

Die Probleme der Schweiz sind bei weitem nicht die grössten. Daraus folgt kein Anspruch auf Ausnahmen, jedenfalls dann nicht, wenn dadurch das System des Binnenmarkts als solches in Frage gestellt würde.

Das ist bei den Vorgaben der SVP-Masseneinwanderungsinitiative der Fall.

Man kann die wiederholten Mitteilungen der zuständigen EU-Gremien ungelesen und ungehört zur Seite legen - wie das gegenwärtig in der Schweiz geschieht.

Ob dies die Glaubwürdigkeit der eigenen Position stärkt, ist eine andere Frage. Es könnte auch einfach dumm sein. In der Regel ist es klüger, sich mit der Verhandlungsposition des Gegners auseinanderzusetzen.

Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative 121a BV

Weder Artikel 121a BV noch Artikel 197 Ziffer 11 BV der angenommenen SVP-Masseneinwanderungs-Initiative verpflichten Bundesrat oder Parlament, die Bilateralen zu kündigen, auch nicht ab dem 19. Februar 2017. Die einzige Pflicht besteht darin, mit der EU zu verhandeln (Artikel 197 Ziffer 11 Absatz 2 BV).

Bestehen die Bilateralen weiter, gehen sie dem nationalen Recht vor, auch einer bundesrätlichen Verordnung nach Artikel 197 Ziffer 11 Absatz 2 BV.

Weder im Bundesrat noch im Parlament wird es eine Mehrheit geben, welche freiwillig entweder die Kündigung oder den Vertragsbruch der Bilateralen beschliesst.

Die Verträge sind für die Schweiz zu wichtig. Selbst die rechtsnationale SVP hat bis heute keinen solchen Antrag gestellt, was belegt, dass sie den Schwarzen Peter scheut.

Dementsprechend wird sich 2017 am Status quo nichts ändern. Es gibt daher keinen Anlass, beim voraussehbaren Scheitern der Verhandlungen in Hektik zu verfallen oder deswegen den Rechtsnationalen Konzessionen zu machen.

Probleme schafft allenfalls Artikel 121a Absatz 4 BV, wonach keine völkerrechtlichen Verträge abgeschlossen werden dürfen, die der MEI widersprechen.

Im Fall Kroatien hat die Schweiz unilateral ab dem 1. Juli 2014 Kontingente eingeräumt, auf welche Kroatien im Rahmen der Übergangsregelung des PFZA-Protokolls Anspruch gehabt hätte. So wurde der Konflikt vorläufig abgewendet.

Die Übergangsfrist läuft 2021 aus. Dann wird die Schweiz das Kroatien-Protokoll unterzeichnen müssen.

Tut sie es nicht begeht sie Vertragsbruch, was die Kündigung der Bilateralen seitens der EU auslösen würde.

Um den Vertragsbruch zu vermeiden, kann sie Kroatien von der MEI-Gesetzgebung ausnehmen, solange die Bilateralen gelten. Zu erwarten ist, dass die Schweiz diesen Weg wählen wird.

Andernfalls müsste das Verhältnis MEI/Bilaterale vor 2021 an der Urne geklärt werden.

Zukunftsorientierung statt Anbiederung

Beim Bankgeheimnis haben Bundesrat, Diplomatie und Parteien mit Vehemenz die Schweizer Position öffentlich, intern und über die Diplomatie auch extern, als unabänderlich dargestellt, um kurz darauf dem Verwaltungsweg mangels Widerstandsfähigkeit das Gegenteil zu machen.

Derselbe Vorgang spielt sich derzeit bei den schweizer Steuersondervorschriften für Unternehmen mit Auslandeinkünften ab (Artikel 28 StHG).

Bundesrat und Parteien hatten wiederholt erklärt, darüber werde auf keinen Fall verhandelt. Das schweizer Steuerrecht gehe die EU nichts an und das EU-Wettbewerbsrecht gehe die Schweiz auch nichts an.

Am 14. Oktober 2014 unterzeichnete BDP-BR Widmer-Schlumpf (früher SVP) für die Regierung in einer Kehrtwendung um 180 Grad eine Unterwerfungserklärung.

Artikel 28 StHG wird auf Begehren der EU aufgehoben:

the Swiss Federal Council intends to take measures to remove the following tax regimes: the cantonal administrative company status, the cantonal mixed company status, the cantonal holding company status.

Die peinliche Erklärung wurde nicht auf Deutsch übersetzt.

In der Binnenmarktfrage will man offenbar wegen der rechtsnationalen Opposition ein drittes Mal in die gleiche Falle laufen.

Besser wäre es für die Mitteparteien, die Kernfrage öffentlich zu stellen, zu debattieren und darüber eine Abstimmung zu verlangen: Soll sich die Schweiz weiterhin am europäischen Binnenmarkt beteiligen, ja oder nein.

Eine solche Abstimmung lässt sich gewinnen.

Die aktuelle Anbiederung in Politik und Medien an die irrationale rechtsnationale Position mit der Forderung, die übrigen 31 Binnenmarktländer müssten die Schweiz als Sonderfall anerkennen und ihr die Binnenmarktvorteile zugestehen, die Binnenmarktpflichten aber erlassen, hat keine Zukunft.

Natürlich: bei einem Nein müsste die Schweiz die Bilateralen kündigen.

Ob dann die EU ihrerseits das Freihandelsabkommen kündigt, liegt ausserhalb des Einflussbereichs der Schweiz, ist aber ein relevantes Risiko der rechtsnationalen Position und müsste in der Abstimmung auch benannt werden.

25.04.2015

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