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zu Politik und Recht

Eugen David

Europapolitik
jetzt vertikal statt horizontal

Am 25.02.22 präsentiert der Bundesrat der Öffentlichkeit seine „Stossrichtung“ für ein „Verhandlungspaket“ mit der EU.

Die Publikation erfolgt einen Tag nach dem militärischen Überfall des russischen Diktators Putin auf die Ukraine, ein Land mitten in Europa, das der EU beitreten möchte.

Am 24.02.22 hatte der Bundesrat beschlossen, sich an den EU-Sanktionen gegen den Kremlherrscher nicht zu beteiligen.

Kein optimaler Start für eine Aufhellung der Beziehungen CH/EU.

Ball nicht mehr im Feld der EU

Im Herbst 2021 hatte Staatssekretärin Leu der Öffentlichkeit mitgeteilt, der Ball liege im Feld der EU. Die EU werde sich zu den Beziehungen zur Schweiz äussern. Das sei abzuwarten. Nachdem aus Brüssel keine Meldung eingetroffen ist, nimmt das Abwarten plötzlich ein Ende.

Wahrscheinlich blieb die Nicht-Assoziierung der Schweiz im europäischen Forschungsprogramm Horizon nicht ganz ohne Wirkung.

Die EU hatte es abgelehnt, ohne Rahmenabkommen über ein neues Stromabkommen und die Anpassung von Konformitätsbewertungen im Medizinalgerätebereich zu verhandeln. Auch das dürfte einen Meinungsumschwung bei einzelnen Regierungsmitgliedern ausserhalb der SVP befördert haben.

Die Absicht von FDP-BR Cassis, bis zu den Bundesratswahlen 2023 über die strittigen Punkte nicht mehr zu sprechen, ist in der bundesrätlichen FDP-Delegation, die am 26. Mai 2021 für den Verhandlungsabbruch ausschlaggebend war, offenbar nicht mehr mehrheitsfähig.

Position der EU

Der zuständige slowakische EU-Kommissar Sefcovic, hatte damals festgestellt, der Abbruch ändere nichts an den konkreten Fragen, die im Verhältnis EU-CH gelöst werden müssten:

  • Umsetzung und Einhaltung der Binnenmarktegeln durch die Schweiz im Rahmen ihrer bilateralen Beteiligung am europäischen Binnenmarkt,
  • Regelung des Kohäsionsbeitrags der Schweiz.

Die seit langem bekannte Position von EU-Rat, EU-Parlament und EU-Kommission im Verhältnis zum Drittstaat Schweiz hat sich seit Mai 21 nicht verändert:

  • Die Integrität des europäischen Binnenmarktes hat Priorität.
  • Die vier Binnenmarkt-Freiheiten, freier Verkehr für Personen, Güter, Dienstleistungen und Kapitalien, sind unteilbar.
  • Zu den Binnenmarkt-Pflichten gehören die Anerkennung der EuGH-Urteile und Kohäsionszahlungen.
  • Kein Drittstaat, der nicht alle Pflichten im Binnenmarkt übernimmt, hat dieselben Binnenmarktrechte wie ein EU-Mitgliedsstaat.
  • Kein cherry-picking und kein «Have their cake and eat it!» für Drittstaaten.

Cherry picking bleibt

Mit seiner „Stossrichtung“ vom 25.02.22 hält der Bundesrat unverdrossen am cherry-picking für die Schweiz fest.

Er will nicht grundsätzlich über die Anerkennung der Regeln des europäischen Binnenmarkts sprechen, sondern nur selektiv pro Abkommen oder wie es jetzt heisst „vertikal“ statt „horizontal“.

Exponenten der FDP haben das den FDP-Regierungsmitgliedern empfohlen. FDP-BR Cassis erklärte, ein "Rahmenabkommen 2.0" werde es nicht geben.

In den einzelnen Abkommen über Konformitätsbewertungen, Beschaffungswesen, Land- und Luftverkehr sowie landwirtschaftliche Erzeugnisse sollen – so scheint es – die institutionellen Regeln des Rahmenabkommens „vertikal“ integriert werden.

Das Abkommen über die Freizügigkeit soll – so scheint es – davon „vertikal“ und selektiv ausgeschlossen bleiben. Nur dann macht die Aufteilung in selektiv „vertikal“ statt generell „horizontal“, in einem Rahmenabkommen, überhaupt Sinn.

Diese "Stossrichtung" des Bundesrats widerspricht der Integrität des europäischen Binnenmarkts, in welchem die vier Freiheiten, einschliesslich der Personenfreizügigkeit, unteilbar sind.

Die beabsichtigte Fortsetzung des cherry-picking bleibt unter der neuen Formel „vertikal“ statt „horizontal“ offensichtlich.

Der Bundesrat bleibt – ungeachtet der anders lautenden Position der EU - bei seiner Ansicht, die Schweiz könne als Drittstaat die Vorteile des europäischen Binnenmarktes in Anspruch nehmen, ohne allfällige Lasten aus der Personenfreizügigkeit mittragen zu müssen.

Nicht auszuschliessen ist, dass der Bundesrat mit den Formalitäten „vertikal“ statt „horizontal“ bloss eine Vernebelungstaktik zuhanden der Innenpolitik verfolgt, um erklären zu können, es gebe kein "Rahmenabkommen 2.0".

FDP-BR Cassis hat am 22.01.22 dem Führer der einheimischen Rechtsnationalen an dessen jährlicher Albisgütli-Veranstaltung in Zürich versprochen, ein „Rahmenabkommen 2.0“ werde es nicht geben.

Keine Antwort auf Streitfragen

Der Bundesrat will nach wie vor an Arbeitnehmer aus der EU, die während mehr als fünf Jahren in der Schweiz tätig waren und in Not geraten sind, keine Sozialhilfe leisten.

Die Gewerkschaften haben bereits klar gemacht, dass sie auf ihre lukrative Kontrolle ausländischer Handwerksbetriebe, die in der Schweiz nach Binnenmarktrecht tätig werden wollen, nicht verzichten wollen (sog. „Lohnschutz“).

Die Kantone haben bisher nicht signalisiert, dass sie bereit wären, nach Binnenmarkrecht auf die traditionelle Subventionierung und Privilegierung einzelner Unternehmen zu verzichten.

Die am 23.02.22 beschlossenen „Stossrichtung“ enthält keine Antworten auf diese konkreten Streitfragen.

Agenda auf hoher Ebene

Dennoch schickt der Bundesrat EDA-Staatssekretärin Leu zu Sondierungsgesprächen nach Brüssel.

Am 17.09.21 hatte er der EU-Kommission per Brief mitgeteilt, er wünsche einen „politischen Dialog“ über eine „Agenda“ „auf hoher Ebene“. Ob es sich bei der geplanten Visite darum handelt, bleibt im Dunkeln.

Alt EJPD-Staatssekretär Gattiker soll derweil mit den Führern der Gewerkschaften, Maillard und Lamprecht, darüber verhandeln, inwieweit sie das Binnenmarktrecht im Bereich der Personenfreizügigkeit akzeptieren wollen.

Neuigkeit

Neu an den aktuellen Beschlüssen ist, dass die Mehrheit des Bundesrates nicht mehr die Bundesratswahlen 2023 abwarten will, bevor die Regierung mit der EU wieder institutionell aktiv wird.

Der von FDP-BR Cassis nach dem Abbruch der Verhandlungen verkündete Drei-Phasen-Plan, wonach institutionelle Fragen mit der EU erst ab 2024 wieder besprochen werden, ist reif für den Papierkorb.

Da die SVP jede Annäherung an Europa ablehnt, ist ein Konflikt in der noch bestehenden bundesrätlichen SVP/FDP-Koalition eineinhalb Jahre vor den Wahlen programmiert.

26.02.2022

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