Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Mit Assoziationsabkommen (sog. Bilaterale Verträge) hat sich die Schweiz ab 1. Juni 2002 am EU-Binnenmarkt beteiligt.
Seither übernimmt sie auf Begehren der Europäischen Union laufend europäisches Recht, zum Teil sogar - im autonomen Nachvollzug - ohne Vertragspflicht.
Zum Beispiel gerade jetzt im Steuer- und im Finanzmarktrecht.
Zum Inhalt des übernommenen europäischen Rechts hat die Schweiz nichts zu sagen.
Es wird auf Antrag der EU-Kommission gemeinsam vom EU-Parlament und vom Europäischen Rat erlassen.
Im Europäischen Rat sind alle Regierungen der 28 EU-Mitgliedsländer vertreten, nicht aber die Schweiz.
Mit den Bilateralen hat die Schweiz freiwillig souverän auf eine Vertretung in der EU-Kommission, im EU-Parlament und im Europäischen Rat verzichtet.
Sie ist damit zufrieden, wenn ihr jedes Jahr im Gemischten Ausschuss von einem Beamten der EU-Verwaltung mitgeteilt wird, welche Bestimmungen des europäischen Rechts sie übernehmen muss.
Der Bundesrat ist der Ansicht, die Schweiz müsse möglichst in allen internationalen Gremien dabei sein, so in der WTO, in der UNO, in der OECD, in der Weltbank, im Währungsfonds, bei den G-20.
Nur gerade für Europa gilt das Gegenteil: hier, wo weitaus die meisten und wichtigsten Regeln gemacht werden, die für die Schweiz gelten, sei eine Teilnahme brandgefährlich. Ein seltsam bizzares Denken.
Seit die Rechtsnationalen unter Führung von aFDP-NR Fischer, aSVP-NR Blocher und ihrer Organisation AUNS zusammen mit der Grünen Partei mit der Absage an den EWR am 6. Dezember 1992 knapp erfolgreich waren, laviert der Bundesrat im bilateralen Fahrwasser.
Fischer und Blocher haben nach dem Abstiegungssieg vom Bundesrat verlangt, es seien - anstelle des abgelehnten EWR-Vertrags - mit der EU bilaterale Verträge abzuschliessen. Der Bundesrat hat diese Forderung 1999 umgesetzt.
Inzwischen haben sich die Rechtsnationalen von den Bilateralen verabschiedet. Sie wollen das aufkündigen, was sie nach 1992 der Schweiz aufgezwungen haben.
Auch im EWR hätte die Schweiz über den Inhalt des europäischen Rechts nicht mitbestimmen können. Immerhin hatte sie aber – wie heute Norwegen – der EU in einem formelle Verfahrten eine Vernehmlassung abgeben können.
Souveränitätspolitisch sind die Bilateralen noch tiefer einzustufen als der EWR: bilateral gibt es nicht einmal eine Vernehmlassung, geschweige denn ein formelles Verfahren in Bezug auf die europäische Gesetzgebung, welche die Schweiz zu übernehmen hat.
Unter den Bilateralen wird der nationale Handlungsspielraum der Schweiz täglich schmaler. Auf multilateraler EU-Ebene gewinnt die Schweiz bilateral kein Jota an Handlungsoptionen.
Im Gegenteil. Anfänglich begab sich der Bundesrat hoch erhobenen Hauptes nach Brüssel. Heute ist er Bittsteller, der froh sein muss, wenn die Türen nicht zugeschlagen werden.
Einfach Nein sagen kann er auch nicht mehr, weil die Schweiz wirtschaftlich in hohem Masse vom EU-Binnenmarkt abhängt. Neuestes Beispiel ist der Strommarkt.
Der Bundesrat redet die EU-Abhängigkeit klein und verweist auf globale Hoffnungsträger für die Schweiz ausserhalb der EU, so auf die schweizliebenden Chinesen, Russen, Inder, Brasilianer, Amerikaner usw.
Die Schweiz entwickelt sich schrittweise politisch und wirtschaftlich zu einem stummen Anhängsel der Europäischen Union. Diese Realität hat noch nicht in den Köpfen Einzug gehalten, eben weil der Bundesrat zur Abwehr der rechtsnationalen Opposition das Gegenteil kommuniziert.
Nachhaltig pflegt er die Fiktion voller Souveränität auf allen Kanälen. Er bewege sich mit der EU völkerrechtlich auf Augenhöhe.
Dass der EU-Binnenmarkt ein multilaterales Projekt ist, zu dem die Schweiz mit Rechten und Pflichten nur Ja oder Nein sagen kann, wird verschwiegen.
Ebenso die Tatsache, dass die Schweiz zum Inhalt der laufend zu übernehmenden europäischen Rechts nichts zu sagen hat.
Die Schweiz befände sich völkerrechtlich auf Augenhöhe, wenn beide Seiten die jeweilig andere Rechtsordnung als binnenmarktkonform anerkennen würden.
Der Bundesrat weiss, dass davon keine Rede sein kann. Die Bilateralen sind eine Einbahnstrasse: die Schweiz hat europäisches Recht anzuerkennen, die EU anerkennt im Binnenmarkt abweichendes schweizer Recht - bis auf wenige Ausnahmen - nicht.
Nach und nach kommt die Realität ans Tageslicht. Und jetzt herrscht Aufregung.
Die rechtsnationale SVP lehnt im Grundsatz jede Bindung an die EU ab, erwartet in absehbarer Zeit die Auflösung der Europäischen Union und den Kollaps der europäischen Währung Euro.
Die Zahl ihrer Anhänger bewegt sich gegen 30% der Stimmberechtigten.
Die SVP wünscht sich für Europa den Nationalismus des 19./20. Jahrhunderts zurück, der zwei Weltkriege verursacht hat.
Sie hat am 14. Februar 2012 eine Initiative "Gegen Masseneinwanderung" eingereicht (MEI-Initiative). Diese verlangt im Ergebnis den Ausstieg aus dem geltenden Personenfreizügigkeitsabkommen Schweiz-EU. Damit würden die Bilateralen Verträge beerdigt.
Der Bundesrat hat die Initiative am 07.12.2022 abglehnt. Die Mehrheit des Parlaments folgte der Regierung am 27.09.2013, im Nationalrat mit 140 zu 54 Stimmen, im Ständerat mit 37 zu 5 Stimmen.
Die schweizer Stimmberechtigten sahen dies anders. Eine knappe Mehrheit von 50.3% hat der Initiative am 9.Februar 2014 zugestimmt. Sie will aus dem FZA aussteigen.
Mit viel Geld präsentiert die rechtsnationale Propagandamaschinerie seit der EWR-Abstimmung 1992 die EU der Bevölkerung als bürokratischen Moloch und Feind der Schweiz.
Die Medien haben das Bild nach und nach als Mainstream aufgenommen.
Seit den Bundesratswahlen 2003/4 ist die Regierung mit einer Mehrheit von Europa-Gegnern besetzt. Der Bundesrat hat die Feindbild-Optik der Rechtsnationalen in seine Kom-munikation übernommen. Das dürfte wesentlich zum Erfolg der MEI-Initiative beigetragen haben.
Im Abstimmungskampf wurde vermutlich auch vielen klar, dass die Schweiz zur Personenfreizügigkeit in Europa, unter Einschluss der Schweiz, nichts zu sagen hat.
Dennoch muss die Schweiz das europäische Recht zur Personenfreizügigkeit aufgrund der Bilateralen Verträge vollumfänglich übernehmen.
Das Feindbild EU erhält aus dieser Erkenntnis neue Nahrung.
Angesichts der bestehenden Verträge hätte der Bundesrat die MEI-Initiative nur dann als gültig erklären dürfen, wenn diese gleichzeitig die Kündigung des FZA vorgesehen hätte.
Treu seiner langjährigen bilateralen Kommunikationsstrategie hat er die Initiative trotz diesem Mangel für gültig befunden, in der Hoffnung, sie werde abgelehnt und damit seine bilaterale Position gestärkt. Die Rechnung ist nicht aufgegangen.
Die EU-Organe haben der Schweiz wiederholt – letztmals im Dezember 2014 – offiziell mitgeteilt, dass sie auf Verhandlungen über das FZA nicht eintreten können und wollen, weil es sich um einen zentralen Baustein des EU-Binnenmarktes handelt.
Statt diese Stellungnahme Parlament und Öffentlichkeit weiter zu geben, nährt der Bundesrat jetzt die Erwartung, eine Abänderung des FZA nach den Vorstellungen der MEI-Initiative sei machbar.
Catherine Ashton, Vizepräsidentin der EU-Kommission und Aussenbeauftragte der Europäischen Union (High Representative of the Union for Foreign Affairs and Security Policy), hat dem Bundesrat per Brief mitgeteilt, über die Umsetzung des FZA könne diskutiert werden, aber nicht über seinen Inhalt.
Um innenpolitisch die rechtsnationale Opposition zu befriedigen, kommuniziert der Bundesrat der schweizer Öffentlichkeit, er werde dennoch ein Verhandlungsmandat beschliessen.
Die EU-Kommission und der Europäische Rat meinten es nicht ernst mit der wiederholten Ablehnung von FZA-Verhandlungen, glaubt die schweizer Regierung und teilt dies auch so der Bevölkerung mit.
Dann lanciert sie zur weiteren Vernebelung der Realitäten das Thema „Schutzklausel“. Von einer Schutzklausel zugunsten des Sonderfalls Schweiz wolle man die EU überzeugen.
Unter diesem Label liessen sich unilaterale Abwehrmassnahmen gegen EU-Bürger, wie der Schweizervorrang und die Kontingentierung gemäss MAI-Initiative, beim EU-Vertragspartner besser verkaufen.
Die Schweiz hat sich indessen im FZA ausdrücklich verpflichtet, unilateral keine solchen diskriminierenden Änderungen gegen EU-Bürger einzuführen.
Die schweizer Regierung hält mit rechtsnationaler Ideologie dagegen: das Prinzip „pacta sunt servanda“ gelte für die Schweiz nicht mehr, wenn das Volk gesprochen hat. Das werde auch die EU einsehen.
Die Banalität, dass man einen Vertrag kündigen muss, wenn man ihn nicht mehr halten und der Vertragspartner ihn nicht ändern will, könne im Sonderfall Schweiz nicht gelten.
Neuerdings wird der „EFTA-Gerichtshof“ ins Spiel gebracht. Der Gerichtshof befasst sich nur mit dem für den EWR geltenden europäischen Recht und hat mit der EFTA nichts zu tun.
Er übernimmt die EuGH-Rechtsprechung. Er heisst nur deswegen EFTA-Gerichtshof, weil die Schweiz im Vorfeld der EWR-Abstimmung 1992 diese Bezeichnung verlangt hat.
Man hoffte unter dieser Etikette die EWR-Abstimmung zu gewinnen. Trotz der Fehlspekulation wird dasselbe Wording zwanzig Jahre später wieder lanciert.
Statt sich von den Rechtsnationalen in jede Sackgasse treiben zu lassen, wäre es einen Versuch wert, die Fakten so auf den Tisch zu legen, wie sie sind. Ungeachtet des losbrechenden Geschreis.
Aber eben: mit unangenehmen Realitäten gewinnt man keine Abstimmung. Dafür braucht es angenehme Falschmeldungen, FakeNews, und bequeme Illusionen. Auch das ist direkte Demokratie.
01.02.2015
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