Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Europa Aussitzen mit einem 3-Phasenplan



Laut FDP-BR Cassis hat der Bundesrat im Zeitpunkt des Abbruchs der Verhandlungen mit der EU, am 26. Mai 2021, einen 3-Phasenplan beschlossen. SVP-BR Parmelin sagte damals, der Bundesrat habe einen Plan B vorbereitet.

Einen ersten verschwommenen Hinweis zum Plan B machte FDP-BR Cassis an der Botschafterkonferenz vom 30.08.21 in Bern:

Danach sollen die Beziehungen zur EU bis Ende 2021 stabilisiert werden.

Bis zum Wahljahr 2023 wolle man über die Methode dieser Beziehungen diskutieren. Nach dem Wahljahr, ab 2024, sollen die Beziehungen definiert und umgesetzt werden.

Das heisst konkret: Der Bundesrat will die Probleme mit der EU bis nach den Bundesratswahlen im Dezember 2023 aussitzen.

Am 10.09.21 machte FDP-BR Cassis seinen Drei-Phasenplan zuerst bei Wirtschaftsvertretern in Basel bekannt, danach, am 30. September 2021, im Parlament.

Phase 1

In der Phase 1 will FDP-BR Cassis den Abbruchentscheid des Bundesrates der EU-Kommission und Ministern der EU-Mitgliedsländer diplomatisch erklären.

Zu diesem Zweck sei er im Sommer 2021 in Brüssel bei den EU-Kommissaren Borrell und Hahn gewesen. Ausserdem habe er mit mehreren Ministern aus den EU-Staaten gesprochen.

Ob er mit seinen Erklärungen und seinem Charme irgendeinen Erfolg hatte, ist unbekannt.

Von einem Verständnis für den bundesrätlichen Verhandlungsabbruch war in den Communiqués nichts zu lesen.

Die Positionen des EU-Parlaments, des EU-Rats und der EU-Kommission hinsichtlich der homogenen Anwendung des europäischen Binnenmarkrechts auch in der Schweiz, soweit sie am Binnenmarkt teilnimmt, sind seit vielen Jahren unverändert.

In der Schweiz werden sie allerdings kaum zur Kenntnis genommen.

Zur Phase 1 gehört laut FDP-BR Cassis die bedingungslose Freigabe der 2019 im Parlament beschlossenen Kohäsionsmilliarde.

Die FDP-Ständeräte Müller und Noser hatten am 29.11.18 im Parlament beantragt, der Bundesrat dürfe die Kohäsionsmilliarde nicht auszahlen, „wenn und solange die EU diskriminierende Massnahmen gegen die Schweiz erlässt.“

Beide Kammern stimmten diesem Antrag zu.

Daraufhin hat Bundesrat nichts ausbezahlt, in der Meinung die Schweiz werde von der EU diskriminiert. Jetzt will er trotz der unterstellten Diskriminierung auszahlen.

Phase 2

In der Phase 2 gehe es um die Klärung der Frage, wie die Schweiz und die EU ihre Zukunft miteinander gestalten wollen.

Zu diesem Zweck müsse aussenpolitisch ein hochrangiger politischer Dialog auf Ministerebene mit der EU installiert werden. Streitfragen müssten politisch gelöst werden und könnten nicht mehr den Beamten in den Gemischten Ausschüssen überlassen werden.

Hier müsse jetzt eine Struktur aufgebaut werden.

Die EU-Kommissionspräsidentin habe für das Dossier Schweiz EU-Kommissär Maroš Šefčovič aus der Slowakei für zuständig erklärt. Er freue sich, mit ihm jetzt weiter reden zu dürfen.

Innenpolitisch wolle er einen runden Tisch einrichten. Weil die verschiedenen Parteien, Verbände und Organisationen – wie der Bundesrat erkannt habe - diametral unterschiedliche Positionen verträten. Am runden Tisch wolle man sich gemeinsam Gedanken machen, „wohin die Reise in den nächsten zehn, zwanzig und dreissig Jahren geht.“

Schliesslich will der Bundesrat den unilateralen Nachvollzug von EU-Recht ausbauen, wie von FDP-BR Keller-Sutter verlangt. Der Bundesrat sei schon immer absolut mit dem von der EU-Kommission geforderten „equal level playing field“ einverstanden gewesen.

Phase 3

In Phase geht es laut FDP-BR Cassis darum, „das Ambitionsniveau einer institutionellen Anbindung unserer Beziehungen zu definieren.“

„Wieviel institutionelle Anbindung erträgt das System Schweiz?“ fragt sich BR-Cassis und ruft aus „Wir sind Europa, wir bleiben Europa, zusammen mit der EU und allen anderen Nicht-EU Staaten!“

Echo

Der am 30. September 2021 von FDP-BR Cassis im Parlament präsentierte 3-Phasenplan oder Plan B hat bis anhin kein grosses Echo ausgelöst, weder innen- noch aussenpolitisch.

Handelt es sich um eine Analogie zum Drei-Phasen-Modell zur Bewältigung der Covid-19-Krise, das der Bundesrat im April 2021 präsentiert hat? Drei-Phasen tönen in der Kommunikation immer gut.

Das Parlament hat – voll beschäftigt mit der Kohäsionsmilliarde – den Plan nicht diskutiert.

Die EU-Kommission erinnert am 30.09.21 daran, dass die Schweiz mit der aktuellen Kohäsionsmilliarde seit langem in Verzug sei und die EU von der Schweiz einfach erwarte, dass sie ihre finanziellen Verpflichtungen einhalte.

Die Schweiz schulde für den Beitritt zum Binnenmarkt regelmässige Zahlungen, die sich an den mehrfach höheren Zahlungen Norwegens orientieren müssten.

Am 21. September 2021 hat EU-Kommissar Šefčovič die Europaminister der Mitgliedstaaten über den Stand der Kontakte mit der Schweiz informiert und festgestellt, der Ball liege nach Abbruch der Verhandlungen über das Rahmenabkommen im Feld der Schweiz.

Die Klärung der institutionellen Fragen habe nach wie vor höchste Priorität. Ausserdem müsse über die künftigen Schweizer Finanzbeiträge gesprochen und eine verbindliche Regelung vereinbart werden.

Phase 1 : Zurück auf Feld Eins

Nachdem die SVP/FDP-Koalition am 26. Mai 2021 mit dem einseitigen Abbruch der siebenjährigen Verhandlungen der EU-Kommission die Türe zugeschlagen hat, will FDP-BR Cassis die Tür jetzt wieder öffnen.

Seinen Besuch in Brüssel am 20.07.21 kommentiert die NZZ mit der Bemerkung „konkrete Ideen, wie es nach dem Abbruch des Rahmenabkommens weitergehen soll, gibt es nicht.“

Die EU-Kommission erwartet von der Schweiz nach dem Verhandlungsabbruch keine Worthülsen, sondern Antworten und Vorschläge zu den immer gleichen Fragen, nämlich:

  • Ist die Schweiz bereit, das Binnenmarktrecht in den Bereichen Personenfreizügigkeit, Wettbewerbsrecht, öffentliches Vergaberecht homogen anzuwenden?
  • Ist die Schweiz bereit die EuGH-Urteile zum Binnenmarktrecht zu anzuerkennen?
  • Ist die Schweiz bereit, regelmässig den Kohäsionsbeitrag zu bezahlen?

Die SVP/FDP-Koalition im Bundesrat antwortet bisher drei Mal mit Nein, macht aber keine Vorschläge.

Die rechtsnationale SVP lehnt jede Beteiligung an der EU grundsätzlich ab. Die EU ist seit 30 Jahren das Feindbild der Partei.

FDP-Königsweg

Die FDP will zwar die Schweiz am Binnenmarkt beteiligen, aber selbst darüber entscheiden, ob und inwieweit das für alle andern Länder geltende Binnenmarktrecht in der Schweiz angewendet wird und ob und inwieweit die Schweiz einen Kohäsionsbeitrag zahlt.

Insbesondere will die FDP die EuGH-Urteile zum Binnenmarktrecht nicht anerkennen. Sie findet darin Unterstützung bei Gewerkschaftspräsident SP-NR Maillard und Gewerkschaftssekretär Lampart.

Nach dem Wording der FDP und des Wirtschafsverbands Economiesuisse ist das der Königsweg „Bilateralismus“, der allein für die Schweiz in Betracht kommt.

Entgegen der Darstellung von FDP-BR Cassis am 30.09.21 im Parlament ist die schweizer Regierung, nach den Vorgaben der SVP/FDP-Koalition auf ihrem bilateralen Königsweg, eben gerade nicht mit dem „equal level playing field“ im europäischen Binnenmarkt einverstanden.

Die EU-Arbeitskräfte und der Gotthardtunnel

Die SVP/FDP-Koalition und das EDA sind der Ansicht, die Schweiz habe einen Anspruch auf den EU-Binnenmarktzutritt ohne weitere Verpflichtungen betreffend Umsetzung des EU-Binnenmarktrechts oder Kohäsionszahlungen,

  • weil Schweizer Unternehmen aufgrund ihrer wirtschaftlichen Interessen Arbeitskräfte aus dem EU-Raum rekrutieren, sei es als Grenzgänger oder als Aufenthalter und
  • weil die Schweiz den Gotthard-Basistunnel gebaut habe und jetzt am Gotthard eine zusätzliche Röhre für den Strassenverkehr baue.

Man kann es auch anders sehen:

  • die Schweizer Unternehmen profitieren in hohem Masse vom hindernisfreien Zugang zum europäischen Arbeitsmarkt. Was der Zugang wert ist, zeigt sich derzeit in UK, wo seit dem Brexit u.a. 100‘000 Lkw-Fahrer fehlen und deswegen die Tankstellen kein Benzin mehr abgeben.

    Zu denken ist an die vielen Spezialisten, die in der EU ausgebildet wurden und deren Fähigkeiten von Schweizer Unternehmen mit Gewinn verwertet werde.

  • Wenn die Schweiz die Gotthard-Röhren anrechnet, könnte die EU ihre Infrastrukturbauten zwischen Rotterdam/Hamburg und Basel oder Genua und Chiasso anrechnen. Das Ganze ist ein Nullsummenspiel.

    Um Container aus China aus den europäischen Häfen und aus dem Endbahnhof der chinesischen Container-Züge in Duisburg in die Schweiz zu bringen, sind die hiesigen Unternehmen auf die europäische Infrastruktur angewiesen.

Die Kohäsionsmilliarde

Einen U-Turn machte die FDP am 30.09.21 bezüglich der Auszahlung der 2019 beschlossenen zweiten Kohäsionsmilliarde.

Die Auszahlung soll nun bedingungslos erfolgen, d.h. ohne die von der FDP 2018 gesetzte Bedingung, dass die EU-Kommission der Schweiz die geforderten Äquivalenzbescheinigungen ausstellt.

Um das Ausmass des U-Turns zu werten, muss man bis 2006 zurückblenden.

Damals hatte der Bundesrat die erste Kohäsionsmilliarde in der Volksabstimmung als souveräne „Osthilfe“ der Schweiz, ohne Zusammenhang mit der Beteiligung am europäischen Binnenmarkt dargestellt, obwohl ihre eine Vereinbarung mit der EU-Kommission zugrunde lag.

Die Vereinbarung 2006

2006 haben der Bundesrat und der Präsident des EU-Rats eine Vereinbarung über die Kohäsionszahlungen abgeschlossen. Die Vereinbarung enthält folgende Pflichten der Schweiz:

  • Sie zahlt eine nicht rückzahlbare Milliarde CHF an die in der Vereinbarung bezeichneten EU-Mitgliedstaaten nach dem von der EU definierten Schlüssel.
  • Sie akzeptiert die Überprüfung der tatsächlichen Verwendung des Geldes durch die EU.
  • Sie hält sich in den Abkommen mit den EU-Empfängerstaaten an die von EU der vorgegebenen Finanzierungsleitlinien und –bereiche.
  • Sie beachtet die EU-Vorschriften über das öffentliche Beschaffungswesen.
  • Sie wählt die Projekte im Einvernehmen mit den Regierungen der EU-Empfängerstaaten und in Übereinstimmung mit den Zielen der EU aus.
  • Sie unterrichtet die EU regelmässig über die Umsetzung des Schweizer Beitrags.
  • Sie nimmt die regelmässige Bewertung durch die EU-Kommission in Bezug auf Übereinstimmung der Projekte mit den EU-Zielen entgegen.

Ungeachtet der vom Bundesrat 2006 der EU zugestandenen detaillierten Konditionierung der Kohäsionsmilliarde (alias Osthilfe) nach den Interessen der EU beschreibt der Bundesrat bis heute für das heimische Publikum deren Auszahlung als souveränen Akt der Schweiz.

Liest man die Vereinbarung von 2006 kann von Souveränität keine Rede sein.

In ihrer Kommunikation zu Europafragen bemüht sich die Regierung seit 2003 beim schweizer Publikum den Eindruck zu erwecken, sie handle in allen Europa-Fragen stets souverän, obwohl die Fakten eine andere Sprache sprechen.

Grund: ab 2003 hat die Regierung unter Führung der SVP/FDP-Koalition die Option „EU-Beitritt“ für die Schweiz ausgeschlossen und den Bilateralismus - analog zur Neutralität - zur ewigen Staatsmaxime erhoben.

Druck auf die EU – die Kraft fehlt

Im November 2018 hatten die FDP-Ständeräte Müller und Noser im Parlament durchgesetzt, dass die zweite Kohäsionsmilliarde nicht ausbezahlt wird, „wenn und solange die EU diskriminierende Massnahmen gegen die Schweiz erlässt.“

Sie wollten damit die EU-Kommission zwingen, von der Schweiz geforderte Äquivalenzbescheinigungen betreffend Zutritt zum Binnenmarkt auszustellen.

Nach ihrer Ansicht hat die Schweiz auch ausserhalb der statischen Bilateralen Verträge, einen Rechtsanspruch auf Zutritt zum europäischen Binnenmarkt per Äquivalenz.

Ein solcher Anspruch existiert indessen weder nach EU-Recht, noch nach WTO-Völkerrecht, noch nach den Bilateralen Verträgen CH-EU.

Nach EU-Binnenmarktrecht steht die Abgabe von Äquivalenzbescheinigungen an Drittstaaten im freien Ermessen der EU-Kommission.

FDP-BR Cassis und EDA-Staatssekretärin Leu nehmen für die Schweiz die Prämisse in Anspruch: „Aussenpolitik ist Interessenpolitik“. Handelt die EU im Äquivalenzverfahren nach derselben Devise und verfolgt allein EU-Interessen, wird im EDA gejammert, das sei sachfremde Diskriminierung.

Mit dem blamablen U-Turn am 30.09.21 haben FDP-BR Cassis und die FDP anerkannt, dass der Schweiz Macht und Kraft fehlen, unilateral ihre Interessen gegenüber der Europäischen Union durchzusetzen.

Die Konsequenz dieser Erkenntnis ist allerdings nicht, dass die FDP den Bilateralimus hinterfragen und die europäische Kooperation dem Alleingang vorziehen würde. Die Bilateralismus-Ideologie bleibt in den politisierenden FDP-Köpfen fest verankert, komme was da wolle.

Schliesslich:
Woran soll die von BR Cassis für die Phase 1 in Aussicht gestellte Stabilisierung der Beziehungen zur EU gemessen werden? An der vorbehaltlosen Auszahlung der Kohäsionsmilliarde ohne das übliche Souveränitätsbekenntnis?

Phase 2 : Aussitzen

Die Phase 2 soll bis Ende 2023 dauern. Nach Ansicht der SVP/FDP-Koalition sollen vor den Eidgenössischen Wahlen 2023 und den Regierungswahlen im Dezember 2023 keine europapolitischen Entscheide gefällt werden.

Die beiden FDP-Bundesräte wollen vermeiden, dass ihnen wegen unliebsamer Entscheide der Führer der rechtsnationale SVP in den Bundesratswahlen die Zuwendung entzieht.

Daher heisst die Devise Stillesitzen, in der Erwartung, dass die bis dann laufende Erosion der bilateralen Verträge noch keine ernsthaften Folgen zeitigt.

In der Phase 2 soll viel geredet, aber nichts entschieden werden, weder innen- noch aussenpolitisch.

Was heisst hochrangiger Dialog?

Im Parlament sagte FDP-BR Cassis am 30.09.21, es brauche neu einen hochrangigen politischen Dialog mit der Europäischen Kommission. Ein solcher sei bisher nicht geführt worden.

Dasselbe sagte EDA-Staatssekretärin Leu an der Botschafterkonferenz vom 30.08.21.

Nach sieben Jahren Verhandlungen auf allen Ebenen, auch den höchsten, machen diese Erklärungen aus dem EDA sprachlos.

Das EDA selbst hatte fünf Staatssekretäre der obersten Etage in permanentem Einsatz. Dass FDP-BR Cassis vor dem Eklat nie nach Brüssel ging und China vorzog, war seine Entscheidung.

Wegen Nichterfüllung politischer Vorgaben der EDA-Vorsteher wurden die Staatssekretäre nach kurzem Wirken als Verhandlungsführer ersetzt, zuerst von FDP-Bundesrat Burkhalter, dann von FDP-BR Cassis.

Die bundesrätliche Strategie lautete: Wenn der Dialog auf höchster Ebene nicht die von der SVP/FDP-Koalition geforderten Zugeständnisse der EU-Kommission bringt, werden die Schweizer Verhandlungsführer ersetzt, um das Volk zu beruhigen.

Es fehlt nicht an der "Hochrangigkeit" des Dialogs. Der anti-europäisch und rechtsnational fixierten SVP/FDP-Koalition im Bundesrat fehlt es am Willen und an der Fähigkeit zum Dialog.

Jean-Claude Juncker 2017 in Bern

Am 23.11.17 haben die Bundesräte Leuthard, Berset und Cassis in Bern mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, auf höchster Ebene über die Beteiligung der Schweiz am Europäischen Binnenmarkt gesprochen, eine positive Bilanz gezogen und die weiteren Schritte festgelegt.

FDP-BR Cassis mag sich heute nicht mehr an diesen "hochrangigen Dialog" erinnern.

Ein Jahr später, im November 2018, hat sich EDA-Staatssekretär Balzaretti für die Schweiz im Auftrag und mit Wissen des Bundesrates mit EU-Kommissar Hahn über den Text des Institutionellen Abkommens geeinigt.

Auch daran mag sich FDP-BR Cassis nicht mehr erinnern.

Einen Monat später, im Dezember 2018, hat die SVP/FDP-Koalition Staatssekretär Balzaretti desavouiert und eine Unterzeichnung des Abkommens abgelehnt. Ein Jahr später hat FDP-BR Cassis Staatssekretär Balzaretti durch Staatssekretärin Leu ersetzt.

Die heutige Ansicht von FDP-BR Cassis, es brauche einen hochrangigen Dialog, soll das von der SVP/FDP-Koalition seit 2018 zerschlagene Geschirr und den unsäglichen Verhandlungsabbruch vom 26.05.21 vergessen lassen.

Zuständigkeiten?

Zu denken gibt seine Mitteilung im Parlament, der Bundesrat habe jetzt erkannt, dass die EU-Kommission für den Binnenmarkt-Dialog mit der Schweiz zuständig sei und nicht Minister aus den 27 Mitgliedstaaten.

Noch im Juli 21 hatte EDA-Staatssekretärin Leu den CH-Medien erklärt, nicht die EU-Organe, sondern die einzelnen EU-Mitgliedstaaten würden über das Verhältnis der EU zur Schweiz entscheiden. Jeder Staat werde nach eigenen Interessen handeln, allen voran nach wirtschaftlichen.

Hat der Besuch von FDP-BR Cassis in Brüssel den Meinungswechsel herbeigeführt? Er wurde offenbar erst dort, und nicht von den eigenen Diplomaten, über die seit langem bestehenden Zuständigkeiten in der EU informiert.

Im Parlament preist FDP-BR Cassis als Erfolg, dass die EU-Kommissionspräsidentin neu EU-Kommissar Šefčovič als zuständige Ansprechperson für die Schweiz bezeichnet hat.

Šefčovič ist u.a. für die Umsetzung der Brexit-Verträge zwischen der EU und UK zuständig. Unwahrscheinlich, dass er für die Vorstellungen der SVP/FDP-Koalition viel Verständnis hat.

Während der Amtszeit von Jean-Claude Juncker war der EU-Kommissionspräsident selbst Ansprechpartner der Schweizer Regierung, so am zentralen Treffen vom 23.11.17 in Bern.

Die amtierende Kommissionspräsidentin will sich nach dem unerfreulichen Gespräch mit SVP-BR Parmelin vom 22.04.21 nicht mehr selbst engagieren. Sie sieht darin keinen Nutzen für die EU.

Das kann die schweizer Diplomatie wohl nicht als Erfolg verbuchen.

Politische Lösungen?

FDP-BR Cassis und EDA-Staatssekretärin Leu sind der Ansicht, mit der Methode „Dialog auf höchster Ebene“ könnten die Probleme im Sinne der Schweiz „politisch“ gelöst werden.

Der europäische Binnenmarkt ist eine regelgebundene multilaterale Organisation und ein einheitlicher Rechtsraum. Die beteiligten Länder haben sich verpflichtet, die gemeinsamen Regeln einzuhalten. Sie anerkennen, dass bei Regelkonflikten der EuGH das letzte Wort hat.

FDP-BR Cassis und EDA-Staatssekretärin Leu meinen, für die Teilnahme der Schweiz am Binnenmarkt gelte das nicht.

Soweit es um die Schweiz gehe, müsse sich die EU-Kommission nicht an die Binnenmarktregeln halten, könne den EuGH aussen vor lassen und der Schweiz „im hochrangigen politischen Dialog“ gestatten, die Binnenmarktregeln nach eigenem Gusto umzusetzen oder nicht umzusetzen.

Die EU-Kommission wird sich auch „im hochrangigen politischen Dialog“ an die Binnenmarktregeln halten. Das haben die Brexit-Verhandlungen bestätigt. Der Schutz des Binnenmarktes und der Mitgliedstaaten hat Priorität, jedenfalls vor Drittstaaten-Interessen.

Dass der Bundesrat dennoch auf „politische“ Sonderlösungen für die Schweiz setzt, ruft nach der Frage, wer in der Bundesverwaltung für eine objektive und rationale Lagebeurteilung des Verhältnisses zur EU verantwortlich ist.

Die alten Streitpunkte

Das gilt auch für die Punkte, die den Bundesrat am 26.05.21 offiziell veranlasst haben, die Verhandlungen mit der EU-Kommission abzubrechen:

  • Die Regeln über die Personenfreizügigkeit und deren Auslegung durch den EuGH, sei es bezüglich Sozialleistungen an Arbeitnehmer im Binnenmarkt, sei es bezüglich der Kontrolle grenzüberschreitender Arbeiten von Handwerksbetrieben, kann und will die EU-Kommission für die Schweiz nicht „politisch“ aufheben.
  • Die Regeln bezüglich staatlicher Subventionierung einzelner Unternehmen und deren Privilegierung am Markt über Steuern, Staatsgarantien und Vorschriften kann und will die EU-Kommission für die Schweiz nicht „politisch“ lockern.

Erstaunlich bleibt, dass sieben Jahre Verhandlungen nicht genügten, um im EDA die Erkenntnis reifen zu lassen, dass die EU-Kommission, der EU-Rat und das EU-Parlament für die Schweiz im Binnenmarkt keine Besserstellung gegenüber den Mitgliedstaaten und kein Rosinenpicken zulassen wollen.

Die EU-Gegner in der Schweiz sprechen dann von „Nadelstichen“ und „Diskriminierung“. Sie wollen die simple Tatsache nicht verstehen, dass die Schweiz, die sich nach eigenem Bekunden nicht an das europäische Binnenmarktrecht halten will, nicht dieselben Rechte haben kann wie ein Mitgliedstaat, der sich zur Einhaltung des Binnenmarktrechts verpflichtet hat.

Runder Tisch in der Innenpolitik

Innenpolitisch will FDP-BR-Cassis für die Zeit bis nach den Bundesratswahlen 2023 einen Runden Tisch installieren. Wie das funktionieren soll und welche europapolitischen Funktionen noch beim Parlament bleiben, ist offen.

Reden, aber nichts entscheiden, ist die bundesrätliche Tagesordnung für den Runden Tisch.

Die Chance, dass irgendein Ergebnis resultiert, ausser der Beruhigung der Rechtsnationalen und der Gewerkschaften im Blick auf die Bundesratswahlen, ist nahe bei Null.

Phase 3: Perspektive weiteres Aussitzen

Was nach den Wahlen 2023 passieren soll, ist unbekannt. Wahrscheinlich wieder Aussitzen und zurück auf Feld Eins, solange bis die Erosion der Bilateralen Verträge spürbar unangenehme Folgen zeitigt.

Dann sind die verantwortlichen Regierungsmitglieder unangefochten in Pension. Ein positives Resultat des Plans B für die Betroffenen – nicht für die Schweiz.

Solange die anti-europäische SVP/FDP-Koalition, bestehend aus den SVP-Bundesräten Maurer/Parmelin und den FDP-Bundesräten Cassis/Keller-Sutter, im Amt ist, bleiben die Beziehungen der Schweiz zu Europa auf einem Tiefpunkt.

Xenophobia is always in the background.

30.09.2021

zur Publikation als PDF