Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Die Probleme der Schweiz mit dem Gemeinschaftsrecht und dem EuGH rühren jedenfalls zum Teil daher, dass die Schweiz laufend und in immer grösserem Umfang Gemeinschaftsrecht übernimmt, eine Beteiligung an der gemeinschaftlichen Rechtsetzung und Rechtsprechung aber ablehnt, auch für den Bereich des Arbeitsmarktes.
Das Gemeinschaftsrecht, eingeschlossen die Urteile des EuGH, ist nur beschränkt bekannt. Dementsprechend bleibt die Debatte in Polemik stecken.
Zur Personenfreizügigkeit wird neuerdings dem Europäischen Gerichtshof vorgeworfen, das „Lohnschutz-Prinzip“ auszuhebeln.
Aufgrund dreier Urteile – Rüffert, Viking und Laval ‐ der Jahre 2007 und 2008 müssten ausländische Firmen, die in einem andern EU-Land Aufträge ausführen, die dortigen Tarifverträge und Sozialstandards nicht mehr einhalten.
Das deutsche Bundesland Niedersachsen hatte in seinem Gesetz betreffend die Vergabe öffentlicher Bauaufträge vorgeschrieben, dass ein Unternehmen Bauaufträge des Landes ab 10‘000 Euro nur dann erhalten kann, wenn es die über dem tarifvertraglichen Mindestlohn liegenden regulären Tariflöhne der Baubranche in Niedersachsen bezahlt.
Der lokale Baugewerbe-Tarifvertrag war kein allgemein verbindlich erklärter Tarifvertrag im Sinne von Artikel 3 Absatz 1 der Entsende-Richtlinie.
Der EuGH hat in seinem Urteil festgestellt, dass eine solche Regelung faktisch ausschliesslich zulasten ausländischer Anbieter bei öffentlichen Bauaufträgen geht und daher der Grundfreiheit nach Art. 49 EG-Vertrag widerspricht.
Nach Artikel 2 des schweizerischen Entsendegesetzes müssen die ausländischen Bauunternehmen in der Schweiz die Lohnbedingungen garantieren, die in allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsverträgen vorgeschrieben sind. In Artikel 41 des Landesmantelvertrags für das Bauhauptgewerbe sind die Basislöhne allgemein verbindlich festgelegt.
ME kann daher das Urteil Rüffert nicht als Beispiel herangezogen werden, wonach die Rechtsprechung des EuGH Sozialdumping in der Schweiz ermöglichen würde.
Beide Urteile beschäftigen sich mit dem Verhältnis des gewerkschaftlichen Streikrechts zu den Grundfreiheiten des Gemeinschaftsrechts.
Im Viking-Fall richtete sich der Streik der finnischen Gewerkschaften gegen eine Umflaggung des Fährschiffs „Rosella“ der Viking-Line von der finnischen Flagge unter die estische Flagge.
Im Laval-Fall richtete sich eine Baustellenblockade der schwedischen Gewerkschaften gegen die in Schweden tätige Baufirma Laval aus Riga, die statt mit den schwedischen Gewerkschaften mit den lettischen Gewerkschaften einen Tarifvertrag abgeschlossen hatte.
In beiden Fällen hat der EuGH das Streikrecht als Teil des Gemeinschaftsrechts anerkannt (Artikel 136 der Europäischen Sozialcharta).
Der EuGH hat jedoch festgestellt, dass durch die Ausübung des Streikrechts die Grundfreiheiten (Artikel 39, 43 und 49 EG-Vertrag) nicht ausser Kraft gesetzt werden dürfen.
Der EuGH hat es mit andern Worten abgelehnt, das Streikrecht als übergeordnetes, absolutes (Verbands-)Recht anzuerkennen, sondern verlangt eine Abwägung mit den sich aus den Grundfreiheiten ergebenden Rechten.
Der Streik im Fall Viking wurde als unverhältnismässig beurteilt, weil die Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen auf dem Fährschiff „Rosella“ der Viking-Line durch die Umflaggung nicht wirklich gefährdet oder ernsthaft bedroht waren.
Der Streik in Schweden wurde als unverhältnismässig beurteilt, weil die schwedische Praxis, ausländische Bauunternehmen zu Verhandlungen über schwedische Löhne zu zwingen, der Entsenderichtlinie des Gemeinschaftsrechts widersprach.
Die Einbindung des Einsatzes gewerkschaftlicher Kampfmittel (Streik, Blockade u.ä.) in die Rechtsordnung (auch des schweizerischen Binnenmarkts) entspricht dem Schweizer Recht.
Auch danach besteht kein absolutes, allen andern Rechten übergeordnetes Streikrecht.
ME können daher auch die Urteile Viking und Laval nicht als Bespiele herangezogen werden, wonach die Rechtsprechung des EuGH neu Sozialdumping in der Schweiz ermöglichen würde.
Klar ist, dass zwischen den Grundfreiheiten nach EG-Vertrag und den berechtigten lokalen Interessen am Schutz der lokalen Löhne (Arbeitnehmer) und Preise (Arbeitgeber) ein Spannungsverhältnis besteht.
Das gilt nicht nur für den europäischen, sondern auch immer noch für den schweizerischen Binnenmarkt.
Will man aber in Europa ‐ gerade aus Gründen des mit den Grundfreiheiten erreichten Wohlstands – nicht zurück in die nationalstaatliche ökonomische und politische Abschottung mit grossem Konfliktpotential, muss eine Balance gefunden werden.
Ein europaweites „Lohnschutzprinzip“ müsste, soll es funktionieren, wohl spiegelbildlich mit einem „Preisschutzprinzip“ verbunden sein: gleicher Preis für gleichwertige Ware oder Dienstleistung am gleichen Ort.
Das wäre nur planwirtschaftlich aber nicht wettbewerblich umsetzbar. Ein solches Prinzip war in Westeuropa nie Realität.
Ein Binnenmarkt hätte damit weder in der Schweiz noch in Europa Platz.
Die EuGH-Urteile suchen die Balance zwischen Binnenmarkt und Sozialschutz. Die Ergebnisse kann man diskutieren. Sicher sind sie kein Freipass für ein Sozialdumping in der Schweiz.
An der permanenten Aufgabe, zwischen Wettbewerb und sozialer Gerechtigkeit einen vernünftigen und stabilen Ausgleich zu suchen, führt kein Patentrezept vorbei – in der Schweiz nicht und in Europa nicht.
Würde aber der Sozialschutz für die Bewohner Europas wieder – wie in einer nicht allzu fernen Vergangenheit ‐ mit nationalistischen Konzepten verknüpft, wären der Diskriminierung von Nachbarn auf dem gleichen Kontinent mit allen bekannten Konsequenzen wieder Tür und Tor geöffnet.
21.06.13