Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Am 13. Februar 2024 hat sich die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) zum bundesrätlichen Mandatsentwurf für Verhandlungen mit der EU geäussert.
Die APK-S fordert für die Schweiz ein „Klares Verfahren bei der Mitwirkung an der EU-Gesetzgebung («decision shaping») unter Einbezug des Parlaments“.
Bundesrat und EDA meinen zuhanden der APK-S Decision Shaping bedeute, dass „die Schweiz an der Weiterentwicklung des sie betreffenden EU-Rechts teilnehmen kann“.
Decision Shaping ist ein EU-Verfahren, das im Vertrag über den Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) vorgesehen ist.
Am 6. Dezember 1992 lehnten die schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger eine Beteiligung am EWR mit einem Mehr von 50.3% ab.
Grund war eine mit viel Geld geführte Nein-Kampagne von FDP-NR Fischer und SVP-NR Blocher und ihrer Kampforganisation Auns. Die Partei der Grünen unterstützte die Nein-Kampagne, was für den knappen Erfolg der Auns ausschlaggebend war.
Auf Anraten von FDP-NR Fischer und SVP-NR Blocher verfolgte der Bundesrat danach den heute existierenden Bilateralismus. Er bezeichnete diese Europapolitik ab 2009 als Königsweg der Schweiz (FDP-BR Burkhalter, EDA).
Mit den EWR-Staaten Norwegen, Island und Liechtenstein führt die EU seit 1993 das Decision-Shaping-Verfahren durch. Im Bilateralismus war die Schweiz davon bisher ausgeschlossen.
Decision Shaping findet bei der Vorbereitung von EU-Erlassen auf Ebene der EU-Kommission statt. In dieser Phase ist die EU-Kommission nach internem EU-Recht verpflichtet, externe Sachverständige aus den EU/EWR-Mitgliedsländern anzuhören.
Nach dem Common Understanding Paper CH/EU vom 27.10.23 sollen in Zukunft auch schweizer Sachverständige angehört werden, soweit die bilateralen Verträge betroffen sind und die Schweiz dynamisch laufend EU-Recht einführen muss.
Wie nach EWR-Vertrag soll die EU-Kommission nach ihrem Gutdünken auf der Grundlage fachlicher Qualifikation schweizer Sachverständigen auswählen und einladen. Sie gelten im EU-Decision-Shaping nicht als Vertreter der Schweiz.
Diese EWR-Lösung war bereits in Artikel 12 des Institutionellen Abkommens (InstA) vom 23.11.2018 vorgesehen. Der Bundesrat hat das InstA am 26.05.21 abgelehnt und die Verhandlungen mit der EU abgebrochen, weil die schweizer Souveränität nicht gewahrt sei.
In Artikel 12 InstA war ausserdem vorgesehen, dass Beamte aus der schweizer Bundesverwaltung in den Gemischten Ausschüssen der einzelnen bilateralen Abkommen den dort anwesenden Beamten der EU-Verwaltung ihre Ansicht zu bevorstehenden EU-Regulierungen bekannt geben können, sofern diese von der Schweiz übernommen werden müssen.
Eine analoge Lösung findet nach EWR-Vertrag mit den EWR-Staaten Anwendung.
Selbstverständlich können Bundesrat und Parlament – wie Lobby-Organisationen – bereits jetzt briefliche Eingaben zur EU-Gesetzgebung an die EU-Kommission machen. Allerdings ohne jeden Anspruch auf ein Eintreten der EU-Kommission.
Nach den EU-Verträgen sind der Rat der Europäischen Union und das Europäisches Parlament EU-Gesetzgeber.
Sie erlassen die europäischen Gesetze, die von der Schweiz im System des Bilateralismus laufend übernommen werden, sei es über die bilateralen Verträge, sei es im autonomen Nachvollzug.
Die EU-Kommission hat im Gesetzgebungsverfahren das Recht der gesetzgeberischen Initiative. Sie unterbreitet dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament Vorschläge für den Erlass von europäischen Gesetzen.
Im selbst gewählten Bilateralismus lehnt die aktuelle schweizer Regierung jede Beteiligung der Schweiz an den gesetzgebenden europäischen Institutionen (Rat der Europäischen Union und Europäisches Parlament) ab.
Sie will lediglich das von diesen Institutionen ohne demokratische Beteiligung der schweizer Bevölkerung erlassene, also fremdbestimmte, Recht für die Schweiz übernehmen.
Decision Shaping im Bilateralismus ist keine Mitwirkung an der europäischen Gesetzgebung. Mit demokratisch legitimierter Rechtsetzung hat Decision Shaping nichts zu tun.
Von der EU-Kommission ausgewählte Sachverständige aus der Schweiz, die im Vorverfahren von ihr angehört werden, äussern ihre persönliche Ansicht zu geplanten EU-Erlassen. Sie verfügen über keine demokratische Legitimation der schweizer Bevölkerung, des schweizer Parlaments oder der schweizer Regierung.
Im Bilateralismus übernimmt die Schweiz europäische Gesetze, an deren Erlass die schweizer Bevölkerung weder direkt demokratisch noch repräsentativ demokratisch beteiligt ist.
Im Bilateralismus vertreten Beamte des Bundes in den Gemischten Ausschüssen Wünsche der schweizer Regierung gegenüber den EU-Beamten. In diesen Ausschüssen erfolgt laufend die schweizer Übernahme der EU-Gesetze nach den bilateralen Verträgen. Die Sitzungen sind nicht öffentlich.
An der Willensbildung der schweizer Delegation in den Gemischten Ausschüssen nehmen seit über zwanzig Jahren weder das Parlament noch die Bevölkerung teil. Sie liegt ausschliesslich in der Hand der Regierung und dort faktisch bei den zuständigen Stellen der Bundesverwaltung.
Die Aussenpolitische Kommission des Ständerats (APK-S) verlangt am 13. Februar 2024 eine Mitwirkung des schweizer Parlaments an der EU-Gesetzgebung.
Eine aussichtslose Forderung. Vermutlich bezweckt sie eine Beruhigung des schweizer Publikums, das sich unter Decision Shaping wenig vorstellen kann und über die demokratie- und souveränitätspolitische Problematik des Bilateralismus kaum aufgeklärt ist.
Die Schweiz, Parlament und Bundesrat, können an der EU-Gesetzgebung nur mitwirken, wenn die Schweiz als Mitglied der Europäischen Union beitritt.
Nach der Wahl der Bundesräte Calmy-Rey (SP), Blocher (SVP) und Merz (FDP) 2002/2003 schloss die Regierung die Beitrittsoption aus. Äusseres Zeichen war die Liquidation des 1979-2012 existierenden Integrationsbüros des Bundes.
Auf Betreiben der rechtsnationalen SVP folgte eine Parlamentsmehrheit am 15. Juni 2016 diesem Schritt und verlangte den Rückzug des vom Bundesrat am 20. Mai 1992 gestellten EU-Beitrittsgesuchs.
FDP-BR Schneider-Ammann teilte am 27. Juli 2016 der EU-Kommission mit, die Schweiz ziehe ihr Beitrittsgesuch zurück.
Damit ist auf unbestimmte Zeit jede Mitwirkung der Schweiz in den gesetzgebenden Organen der EU ausgeschlossen.
Die Schweiz will in grossem Umfang europäisches Recht übernehmen, ohne an der Gesetzgebung des europäischen Rechts beteiligt zu sein. Das ist das rechtsnationale bilaterale Konzept von SVP-NR Blocher, das der Bundesrat nach der EWR-Abstimmung 1992 als neue schweizer Europapolitik adaptiert und zu einer Ideologie ausgebaut hat.
Decision Shaping nach Common Understanding Paper und Muster des EWR-Vertrags ändert daran kein Jota.
Seit dem Vertrag von Lissabon (2007) haben die nationalen Parlamente der EU-Mitgliedstaaten das Recht zu überprüfen, ob Entwürfe von EU-Rechtsakten im Einklang mit dem europäischen Subsidiaritätsprinzip stehen. Derartige Mitwirkungsrechte wird die EU keinem Nichtmitgliedstaat zuerkennen.
Im Bilateralismus fehlt jede Mitwirkung des schweizer Parlaments oder der schweizer Regierung in den Gesetzgebungsorganen der EU, obwohl die schweizer Bevölkerung dynamisch europäisches Recht zu befolgen hat.
Bundesrat und Parlament können der EU-Kommission keine Vorschriften machen, ob und welche Sachverständige sie aus der Schweiz im Decision Shaping einladen und anhören soll.
Weder das schweizer Parlament noch der Bundesrat können Sachverständigen aus der Schweiz verbindlich benennen, geschweige denn diesen Weisungen erteilen, obwohl es unter Umständen um die Wahrung von gewichtigen schweizer Interessen geht.
Wie bereits in dem vom Bundesrat am 26. Mai 2021 abgelehnten Institutionellen Abkommen vorgesehen, wird ein neues Abkommen die Regelung des internen EU-Rechts und des EWR zum Decision Shaping analog übernehmen. Die EU wird der Schweiz keine Besserstellung gegenüber den EWR-Staaten zubilligen wollen.
Das CH-Parlament kann selbst oder über den Bundesrat wie eine Lobby-Organisation Eingaben oder Resolutionen zur europäischen Gesetzgebung, welche die Schweiz betrifft, an die EU-Organe richten. Diese haben jedoch keine Pflicht darauf einzutreten.
Die vom Bundesrat der APK-S mitgeteilte, irrige Ansicht, die Schweiz könne über das Decision Shaping an der Weiterentwicklung des sie betreffenden EU-Rechts teilnehmen, orientiert sich an der seit Jahren üblichen beschönigenden Kommunikation zum Bilateralismus.
Einziges Handlungsfeld, das verbleibt, ist eine parlamentarische Einflussnahme auf die Willensbildung der schweizer Beamten Delegation in den Gemischten bilateralen Ausschüssen betreffend die dortigen Stellungnahmen der Beamten aus der schweizer Bundesverwaltung.
Da die Gemischten Ausschüsse keine Mitwirkungsrechte in der europäischen Gesetzgebung haben, ist dieses Handlungsfeld von geringer Relevanz. Die Gemischten Ausschüsse sind Verwaltungsstellen für den Transfer des europäischen Rechts in die Schweiz, ohne demokratische Mitbestimmungsrechte.
Immerhin könnte das Parlament neben oder mit dem Bundesrat über die Gemischten Ausschüsse der EU-Verwaltung seine Sicht zu neuen Gesetzesvorhaben zur Kenntnis bringen, analog einer schweizerischen Vernehmlassung. Das hat aber nichts mit demokratischer Gesetzgebung zu tun.
Im Bilateralismus hat die schweizer Bevölkerung immer mehr europäisches Recht zu befolgen. Diese Entwicklung schreitet progressiv voran und hat im Wirtschafts-, Umwelt-, Polizei- und Migrationsrecht bereits einen hohen Stand erreicht.
Von der demokratisch repräsentativen Gesetzgebung zum europäischen Recht in den gesetzgebenden EU-Organen bleibt die Schweiz ausgeschlossen, solange der schweizer Bilateralismus andauert.
Die Forderung der APK-S nach schweizerischer Mitwirkung in der europäischen Gesetzgebung ist Ausdruck der Ausweglosigkeit des Bilateralismus.
Wenn die APK-S dennoch einen Ausbau des Bilateralismus verlangt, verkennt und verdrängt sie die demokratie- und souveränitätspolitisch riskante und stetig wachsende Spaltung von Rechten und Pflichten schweizer Bürgerinnen und Bürger, die europäischen Gesetzen unterworfen sind.
Die SVP/FDP-Mehrheit im Bundesrat propagiert mit dem Bilateralismus eine Souveränitätsillusion und kaschiert damit die fehlende demokratische Mitbestimmung auf europäischer Ebene.
Im Bilateralismus bleiben Schweizerinnen und Schweizer und Unternehmen in der Schweiz auch nach dem neuen Vertrag vom europäischen Rechtsschutz ausgeschlossen, obwohl sie hier europäische Gesetze zu befolgen haben.
Sie sind schlechter gestellt als Bürger, Bürgerinnen und Unternehmen der EU/EWR-Staaten, die gegen rechtswidrige Anwendung europäischer Gesetze durch nationale Behörden und Gerichte an den EuGH/EFTA-Gerichtshof gelangen können.
Die Alternative, eine Beteiligung an den gesetzgebenden und rechtsprechenden europäischen Institutionen, bleibt ein ideologisches Tabu.
Die SVP/FDP-Regierungsmehrheit ist nicht gewillt, die EU als positive Entwicklung für den europäischen Kontinent, unter Einschluss der Schweiz, anzuerkennen.
Seit der Bundesratswahl 2003 beurteilt sie die europäische Integration als schlecht für die Schweiz und schlecht für Europa. Sie will sich daran nicht beteiligen.
Hoffnung und Erwartung schwingen mit, der Euro werde verschwinden und die EU werde sich wieder in die konkurrierenden und souverän gegeneinander kriegführenden Nationalstaaten des 19./20. Jahrhunderts auflösen. Dann fände die Neutralität als schweizer Staatsmaxime wieder ihren Sinn.
Dass die EU nicht nur eine multilaterale Wirtschaftsorganisation, sondern in erster Linie ein Friedens- und Sicherheitsprojekt für den Kontinent ist, hat in diesem politischen Denken keinen Platz.
Die Kommunikation der SVP/FDP-Regierungsmehrheit besteht seit bald zwanzig Jahren darin, was aus der EU kommt, möglichst abzuwehren und die EU als untaugliches Gebilde darzustellen.
So überrascht nicht, dass die Ideologie rechtsnationaler Parteien, wie AfD, Rassemblement national, FPÖ, Lega, Fidesz, Ukip, SVP etc. bei einem guten Drittel der Bevölkerung Anklang findet. Danach ist die EU ein Übel, das abgeschafft gehört.
Der aktuelle Aussenminister, FDP-BR Cassis, ist 2017 in die Regierung gewählt worden, weil er den Rechtsnationalen versprochen hatte, in der Europapolitik den Reset-Knopf zu drücken.
Er hat sein Versprechen gehalten. Die bundesrätliche Europapolitik steckt sei mehr als fünf Jahren im Reset fest.
20.02.2024