Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Einen Monat nach Abbruch der Verhandlungen mit der EU am 26. Mai 2021 durch die SVP/FDP-Regierung erklärt Anfang Juli 2021 EDA-Staatssekretärin Livia Leu vor den Medien, die Schweiz habe der EU zahlreiche Konzessionen gemacht. Das müsse genügen.
FDP-BR Cassis gibt seinen Diplomaten im EDA die Weisung, ein Institutionelles Rahmenabkommen 2.0 wird es nicht geben.
Eine Auseinandersetzung mit der Position des EU-Parlaments, des EU-Rats und der EU-Kommission zum Verhältnis Schweiz-EU findet auf Seiten des EDA nicht statt.
Es seien ohnehin nicht die EU-Organe massgebend, sondern die einzelnen EU-Mitgliedstaaten, meint die Staatssekretärin Leu.
Jeder Mitgliedstaat handle nach eigenen wirtschaftlichen Interessen.
Fakt ist, soweit es nicht um die Personenfreizügigkeit geht, liegt die Zuständigkeit für die Bilateralen allein bei der EU. Nur bei der Personenfreizügigkeit haben die EU-Mitgliedstaaten ein Veto-Recht. Inwieweit dies ein Vorteil für die Schweiz sein soll, bleibt ein Rätsel des EDA.
Dem Verhandlungsklima dient es jedenfalls nicht, wenn man dem Vertragspartner von vorneherein die Zuständigkeit abspricht.
Vermutlich ist Staatssekretärin Leu über die Erfolglosigkeit ihrer Bemühungen, die EU-Kommission vom Sonderfall Schweiz zu überzeugen, frustriert.
Am 20. Juli 2021 reist FDP-BR Cassis erstmals seit seinem Amtsantritt 2017 in Begleitung von Staatsekretärin Leu zu „informellen Gesprächen“ nach Brüssel.
Bei Botschafterin Rita Adam in der schweizer Mission soll geklärt werden, wie man der EU-Kommission die von FDP-BR Cassis lancierte Idee eines „politischen Dialogs auf hoher Ebene“ über eine Agenda“ schmackhaft machen könnte.
Im Nachgang zur Exkursion nach Brüssel äussert Staatssekretärin Leu die Ansicht, der Ball liege im Feld der EU. Die EU werde sich im Herbst grundsätzlich zu den Beziehungen zur Schweiz äussern. Das sei abzuwarten.
Der periodische Bericht des EU-Rats zu den Beziehungen EU-Schweiz steht aus und ist vermutlich auch in den nächsten sechs Monaten unter französischer EU-Präsidentschaft nicht zu erwarten.
Beim französischen Präsidenten Macron hat die Schweiz wenig Goodwill, sei es wegen der Steuerhinterziehungsprozesse der schweizer Grossbanken in Paris, sei es wegen der anti-europäischen Rüstungspolitik der SVP/FDP-Regierung bei der Beschaffung von Kampfflugzeugen für die schweizer Armee.
Am 11. August 2021 unterbreitet der Bundesrat dem Parlament im Blick auf den „politischen Dialog“ einen Beschluss über die Freigabe der seit 2012 ausstehenden Kohäsionsmilliarde.
Er hofft, mit diesem Schritt unilateral den Start des erwünschten hochrangigen politischen Dialogs mit den EU-Organen zu veranlassen.
Sein prioritäres Anliegen: die EU-Kommission soll die Schweiz – ungeachtet des bundesrätlichen Verhandlungsabbruchs - wieder am europäischen Forschungsprogramm Horizon beteiligen.
Am 17. September 2021 überbringen EDA-Staatssekretärin Leu und Botschafterin Adam der lettischen Generalsekretärin der EU-Kommission Ilze Juhansone einen Brief aus Bern, wonach der Bundesrat – ungeachtet des Verhandlungsabbruchs vom 26. Mai 2021 - einen politischen Dialog über eine Agenda auf hoher Ebene wünsche.
Fünf Tage später erklärt der slovakische EU-Kommissar Sefcovic, der Abbruch der Verhandlungen am 26. Mai 2021 durch den Bundesrat ändere nichts an den konkreten Fragen, die im Verhältnis EU-Schweiz gelöst werden müssten:
Die Idee eines „politischen Dialogs über eine Agenda auf hoher Ebene“ ist kein Thema. Sie wird weder von der EU-Kommission, noch von den EU-Mitgliedstaaten aufgenommen. Der Brief des Bundesrates vom 17.09.21 wird in Brüssel archiviert.
Der hochrangige Dialog mit der EU bleibt ein Fantasiegebilde von FDP-BR Cassis. Er möchte mit dieser Kommunikation die innenpolitische Front bis zur Bundesratswahl 2023 ruhig stellen.
Die Freigabe der Kohäsionsmilliarde durch das schweizer Parlament am 30. September 2021 ändert nichts an der EU-Position. Eine Beteiligung der Schweiz am europäischen Forschungsprogramm Horizon steht nicht auf der Tagesordnung der EU-Kommission.
Lukas Mandl, MEP ÖVP-Österreich, Mitglied im Ausschuss für auswärtige Angelegenheiten des EU-Parlaments (AFET), ist nach seinen Angaben beauftragt, für den AFET einen Bericht über die EU-Beziehungen zur Schweiz zu verfassen.
MEP Mandl macht FDP-BR Cassis – anders als die offiziellen EU-Organe – am 20. Juli 21 in Brüssel Hoffnungen für seine Agenda.
Am 27.November 2021 erklärt er dann allerdings an einer Veranstaltung in Bern, im EU-Binnenmarkt sei für die Schweiz dasselbe europäische Recht, inklusive Streitbeilegungsverfahren, massgebend wie für die Mitgliedstaaten, was der bisherigen Position von EU-Parlament, EU-Rat und EU-Kommission entspricht.
Offenbar ist er doch kein Verbündeter der einheimischen Europa-Gegner und auch kein Hoffnungsträger für die Agenda und den politischen Dialog von FDP-BR Cassis auf hoher Ebene.
Was FDP-BR Cassis mit „politischem Dialog“ meint, bleibt im Nebel.
Über die Anwendung des europäischen Rechts in der Schweiz und die Regelung des schweizerischen Kohäsionsbeitrags will er nicht sprechen. Diesen konkreten Dialog zur Sache will er nicht führen – darum steht im EDA-Wording das Adjektiv „politisch“. Es meint eine Verweigerung des Dialogs über die konkreten Streitfragen.
Der nebulöse „politische Dialog“ über eine unbekannte „Agenda“ „auf hoher Ebene“ bezweckt das zu vermeiden, was FDP-BR Cassis am meisten fürchtet: einen Angriff der rechtsnationalen SVP auf seine Person vor den Bundesratswahlen 2023.
Der nebulöse politische Dialog über eine unbekannte Agenda auf hoher Ebene bezweckt das zu vermeiden, was FDP-BR Cassis am meisten fürchtet: einen innenpolitischen Angriff der rechtsnationalen SVP auf seine Person vor den Bundesratswahlen 2023.
Der „politische Dialog“ wird daher nicht so schnell aus dem EDA-Vokabular verschwinden, auch wenn sich niemand sonst dafür interessiert.
Am 10. Dezember 2021 beschäftigt sich der Bundesrat erneut mit der Idee von FDP-BR Cassis. Dessen Absicht, bis zu den Bundesratswahlen 2023 über die konkret strittigen Punkte nicht mehr zu sprechen, bleibt in der SVP/FDP-Koalition intakt.
Sie wird ergänzt durch die Idee von FDP-BR Keller-Sutter, bei den SP-Gewerkschaften auszuloten, wie die Regierung ihren Wünschen entgegen kommen könnte.
Der pensionierte Staatssekretär Mario Gattiker aus dem Migrationsamt soll bei Gewerkschafspräsident SP-NR Maillard und dem heftigsten linken Europa-Gegner, Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes SGB, anklopfen und die Stimmungslage sondieren.
Es geht um die Frage, welche Denk- und Sprechverbote in der Europapolitik die Landesregierung aus Sicht des SGB bis Ende 2023 einhalten soll, um die Gewerkschaften vor den Bundesratswahlen 2023 nicht zu verärgern.
Den eigenen Führungsanspruch hat die FDP in der Regierung aufgegeben. Sie folgt in der SVP/FDP-Koalition den europapolitischen Vorgaben der rechtsnationalen SVP.
Die fundamentalistischen Europa-Gegner, aussen rechts und aussen links, will die FDP aus Angst um ihre Sitze in der Regierung, auf keinen Fall in Rage versetzen.
Schon im Juni 2021, kurz nach Abbruch der Verhandlungen mit der EU, hat das EJPD von FDP-BR Keller-Sutter vorsorglich erklärt, eine Übernahme des europäischen Rechts in den Bereichen Finanzmarkt, Schienenpersonenverkehr, Ausweisung von EU-Bürgern, Sozialhilfe für EU-Bürger werde nicht diskutiert. Hier gilt ein absolutes Denk- und Sprechverbot.
Bleibt die Frage, weshalb ein pensionierter Staatssekretär mit der Aufgabe betraut wird und FDP-BR Keller-Sutter nicht selbst direkt beim schweizer Gewerkschaftsbund nachfragt, was die aktuellen Wünsche von Maillard und Lampart sind.
Offenbar will man sich im EJPD nicht selbst die Finger verbrennen.
Die Wünsche der Gewerkschaften sind dem EJPD seit langem bekannt. Die Gewerkschaften wollen ihre lukrative polizeiliche Kontrolltätigkeit über EU-Handwerksbetriebe, die in der Schweiz Aufträge ausführen, auf keinen Fall verlieren.
Für die Gewerkschaftskasse geht es um Millionen öffentliche Gelder.
Die beiden FDP-Bundesräte bleiben verunsichert. Mit welchen Europa-Gegnern können sie ihre Sitze in der Regierung am besten retten?
Der Bundesrat beschliesst am 10. Dezember 2021 - entsprechend dem Antrag von FDP-BR Keller-Sutter - den pensionierten Staatssekretär Gattiker zu den Gewerkschaften zu entsenden.
Vielleicht erfährt die schweizer Öffentlichkeit nach dieser Mission, welche weiteren Denk- und Sprechverbote in der Europapolitik bis zu den Bundesratswahlen 2023 gelten.
11.12.2021