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zu Politik und Recht
Eugen David
Am 18. Juli 2023 reist FDP-BR Cassis nach Brüssel und besucht dort erneut EU-Kommissar Sefcovic.
Die Europa-Strategie des Bundesrats hat sich seit 2017 nicht geändert.
Das Überbringen dieser Botschaft durch FDP-BR Cassis löst am 18. Juli 2023 bei der EU-Kommission keine Überraschung und keine Reaktion aus, allenfalls Frustration.
Die fortschreitende Verschlechterung der Beziehungen Schweiz/EU und deren Gründe sind bekannt.
Das Treffen in Brüssel endet symptomatisch ohne gemeinsame Erklärung Schweiz/EU.
Zuhanden der schweizer Medien veröffentlicht das EDA – wie üblich unilateral - eine Mitteilung mit Leerformeln wie „Standortbestimmung“, „regelmässiger Austausch“, „Fortschritte auf technischer und diplomatischer Ebene“, „positive Impulse“ etc.
Fakten werden in Begleitung der Worthülsen keine kommuniziert.
Einmal mehr wird versprochen, der Bundesrat werde im Herbst 2023 „erneut Bilanz ziehen“. "Ignazio Cassis kommt nach Brüssel, und keiner weiss so recht, warum“ sagt die NZZ.
SVP/FDP verlangen von der EU den ungehinderten Zugang zum europäischen Binnenmarkt. Gleichzeitig lehnen sie für die Schweiz jede verbindliche Pflicht zur Einhaltung des europäischen Rechts ab.
Seit 15 Jahren verletzt der Bundesrat unilateral das Diskriminierungsverbot des bilateralen Personenfreizügigkeitsabkommens bezüglich grenzüberschreitender Tätigkeiten von EU-Handwerksbetrieben.
Dieser Konflikt hat die Forderung der EU-Organe, Parlament, Rat und Kommission, nach einem institutionellen Rahmenabkommen erst ausgelöst.
Die SVP/FDP-Regierung will weiterhin nach eigenem Gutdünken unilateral vom europäischen Recht abweichen. Daher lehnt sie den EuGH ab. Die Aufgabe des EuGH ist es, die homogene Anwendung des europäischen Rechts im gesamten Binnenmarkt zu gewährleisten.
Dass alle andern beteiligten Länder das europäische Recht einhalten müssen, beurteilt der Bundesrat positiv, profitiert doch die schweizer Export-Wirtschaft davon. Das Homogenitäts-Prinzip soll aber für den schweizer Markt nicht gelten.
Vor 2017 hatte der Bundesrat das Prinzip noch grundsätzlich anerkannt. Mit der SVP/FDP-Mehrheit seit 2017 lehnt er es für die Schweiz ab, mit der Begründung die Schweiz sei nicht EU-Mitglied.
Indessen geht es nicht um eine EU-Mitgliedschaft, sondern um die mit den bilateralen Verträgen (= Assoziationsabkommen) 1999 verbindlich vereinbarte Beteiligung der Schweiz am Binnenmarkt und die deswegen verbindlich vereinbarte Übernahme des europäischen Rechts.
Der Binnenmarkt kann nur funktionieren, wenn alle Beteiligten das gemeinsame europäische Recht einhalten, ob sie über EU-Verträge, über EWR-Verträge, über Assoziationsabkommen oder anderweitig am europäischen Binnenmarkt beteiligt sind.
Eine Selbstverständlichkeit, die in jeder rechtsstaatlichen Ordnung gilt, auch in jeder multilateralen Ordnung, die nach rechtsstaatlichen Prinzipien organisiert ist – wie der europäische Binnenmarkt.
Dass das europäische Recht von den gesetzgebenden EU-Organen (EU-Parlament, EU-Rat, EU-Kommission), ohne Mitwirkung der Schweiz, erlassen wird, hat die Schweiz aus freiem Willen mit ihren Assoziationsabkommen (Bilaterale Verträge I und II) ab 1999 so vereinbart.
Der Bundesrat hat diese Assoziations-Lösung, Teilnahme ohne Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung, der Bevölkerung als „Königsweg der Schweiz“ angepriesen.
Die SVP/FDP-Regierung lehnt eine Beteiligung der Schweiz an den gesetzgebenden Organen des europäischen Binnenmarkts ausdrücklich ab.
Eine Beteiligung widerspräche der rechtsnationalen völkischen Ideologie der regierenden SVP, welcher der Bundesrat in seiner Europapolitik seit 2017 folgt.
Europa soll danach wieder – wie im 19. Jahrhundert – zu einem konfliktbeladenen Konglomerat von Nationalstaaten werden, ohne gemeinsames europäisches Recht, aber mit dem ethnischen Vorurteil, wonach man selbst besser ist als alle andern.
Das ist die Ideologie aller rechtsnationalen Parteien in Europa.
Sie bestimmen indessen kaum in einem andern europäischen Land die Regierungspolitik in einem Ausmass wie in der Schweiz seit den Bundesratswahlen 2017/2018 – allenfalls in Ungarn unter Orban.
SVP-BR Parmelin meinte zum bundesrätlichen Abbruch der Verhandlungen mit der EU am 22.Mai 2021, der Bundesrat habe eine Güterabwägung gemacht, für das ganze Land.
Gemeint war damit ein Beschluss entsprechend der SVP-Ideologie,
Nicht überraschend, dass die EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen vom Besuch von SVP-BR Parmelin am 23.05.2021 in Brüssel beim Überbringen der bundesrätlichen Abbruch-Botschaft wenig angetan war.
Die Gewerkschaften folgen der anti-europäischen SVP/FDP-Europapolitik, ebenso Teile der Wirtschaft.
Alle wollen ungehinderten Beitritt zum Binnenmarkt, verlangen aber für sich unilaterale Ausnahmen vom europäischen Recht, um ihre eigenen Sonderinteressen im schweizer Markt gegen Konkurrenz aus der EU abzuschotten.
Sie setzen das Leitmotiv des schweizer Aussenministers, FDP-BR Cassis, für ihre Partikularinteressen in die Tat um: Aussenpolitik ist Interessenpolitik.
Der Bundesrat erklärt dazu, der Schutz der Sonderinteressen einzelner Gruppen sei ausschlaggebend in den weiteren „Sondierungsgesprächen“ mit der EU.
Den Gewerkschaften geht es primär um den Erhalt ihrer lukrativen gewerbepolizeilichen Kontrollrechte über EU-Handwerksbetriebe, die in der Schweiz Aufträge abwickeln wollen.
Sie befürchten mit Grund, der EuGH könnte nach europäischem Recht die schweizerische Praxis, Polizeibefugnissen durch private Konkurrenten ausüben zu lassen, wegen fehlender Unparteilichkeit als rechtswidrig beurteilen.
Teilen der Wirtschaft – zum Beispiel dem Bundesbetrieb SBB und der Pharmaindustrie - geht es darum, ausländische Konkurrenten möglichst vom hochpreisigen schweizer Markt fernzuhalten.
Die Prinzipien der schweizer Landwirtschaftspolitik - Marktabschottung und Subventionen - sollen auch in andern Wirtschaftsbereichen je nach Bedarf und politischer Interessenlage zum Zug kommen.
Die Finanzindustrie möchte Interventionen der europäischen Organe in ihre internationalen Geschäfte mit den Oligarchen dieser Welt vermeiden. Milliardenvermögen einzelner Personen haben oft einen unappetitlichen Hintergrund, den man diskret behandelt haben möchte.
An diesen politischen Leitlinien und damit am Sonderfall will die regierende SVP/FDP-Koalition festhalten.
Seit mehr als zehn Jahren erhält der Bundesrat aus dem EU-Parlament, aus dem EU-Rat, aus der EU-Kommission und von den Regierungen aller am Binnenmarkt beteiligten Länder die Mitteilung, dass die schweizer Position nicht akzeptiert wird.
EU-Kommissar Sefcovic wird dies am 18. Juli 2023 in Brüssel dem angereisten FDP-BR Cassis erneut bestätigt und einen Abschluss der Sondierungen verlangt haben.
FDP-BR Cassis hat vermutlich unverdrossen an der SVP-Ideologie festgehalten und der EU wieder dieselbe Botschaft überbracht. Oder er ist eingeknickt.
Staatssekretärin Leu reiste seit Mai 2021 zehn Mal nach Brüssel, um der EU-Verwaltung die bundesrätliche Position schmackhaft zu machen. Ohne Erfolg.
Nach ihrem abrupten Abgang übernimmt die undankbare Daueraufgabe per 1. September 2023 der neu gewählte Staatssekretär Alexandre Fasel. Er ist seit 2012 der sechste EDA-Staatssekretär mit diesem Pflichtenheft.
Innenpolitisch kaschiert der Bundesrat die Erfolglosigkeit seiner Europapolitik mit einer zeitlich unlimitierten Fortführung von sog. Sondierungsgesprächen.
Die Geheimhaltung der bundesrätlichen Eckwerte für ein Verhandlungsmandat, beschlossen am 21. Juni 2023, ist ein Hinweis, dass dem Bundesrat die Erfolglosigkeit der SVP/FDP-Position in der Europapolitik durchaus klar ist.
Bisher lehnt die SVP/FDP-Koalition eine Korrektur der anti-europäischen Position ab und nimmt – als Konsequenz - die fortschreitende Erosion der bilateralen Verträge und der übrigen Beziehungen zur EU in Kauf, im Wissen, dass der Schaden für das Land erst später richtig spürbar werden wird.
Solange die Schweiz eine SVP/FDP-Regierung hat, welche über die europäische Integration und das gemeinsame europäische Recht negativ denkt, die EU politisch als Feindbild pflegt und dies – wie in den vergangenen Jahren - permanent der Bevölkerung vermittelt, wird es keinen Ausweg aus der bilateralen Sackgasse geben.
Besuche von Bundesräten und Staatssekretärinnen in Brüssel schaffen da keine Abhilfe.
02.08.2023