Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Die EU hat vor eineinhalb Jahren dem Bundesrat mitgeteilt, sie wolle auf keine Verhandlungen über eine Änderung des Personenfreizügigkeitsabkommen [PFZA] im Sinne des MEI- Artikels 121a BV eintreten. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
Trotzdem kommuniziert der Bundesrat, es fänden Gespräche statt und man sei einer Lösung nahe.
Worüber wird denn gesprochen? Von der Abänderung des Personenfreizügigkeitsabkommens [PFZA] hat sich der Bundesrat ohne grosse Kommunikation selbst verabschiedet.
Er möchte mit der EU nur noch über eine „einvernehmliche“ Interpretation von Artikel 14 Absatz 2 PFZA sprechen.
Der Bundesrat bezeichnet diese PFZA-Bestimmung als „Schutzklausel“.
Sie lautet:
Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen tritt der Gemischte Ausschuss auf Verlangen einer Vertragspartei zusammen, um geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen.
Der Gemischte Ausschuss kann innerhalb von 60 Tagen nach dem Antrag über die zu ergreifenden Massnahmen beschliessen.
Diese Frist kann der Gemischte Ausschuss verlängern.
Diese Massnahmen sind in Umfang und Dauer auf das zur Abhilfe erforderliche Mindestmass zu beschränken.
Es sind solche Massnahmen zu wählen, die das Funktionieren dieses Abkommens so wenig wie möglich beeinträchtigen.
Der Bundesrat ist der Ansicht, mittels dieser Klausel könne der MEI-Artikel 121a BV erfüllt werden.
Nach diesem, von den Rechtsnationalen kreierten Verfassungsartikel aus der Volks-abstimmung vom 09.02.14 hat die Schweiz die Zuwanderung eigenständig mittels Kontingenten und Schweizervorrang am Arbeitsmarkt zu steuern.
Der MEI-Artikel vom 09.02.2014 verlangt eine „eigenständige Steuerung der Zuwanderung“. Eigenständig heisst, die Schweiz entscheidet allein.
Die „Schutzklausel“ des Abkommens sieht das Gegenteil vor: der Gemischte Ausschuss beschliesst über allfällige Massnahmen. Die Schweiz kann nur Antrag stellen.
Der Gemischte Ausschuss ist ein Beamtengremium, je zur Hälfte mit EU-Beamten und mit Schweizer Beamten besetzt. Ein Beschluss kommt nur zustande, wenn die Beamten beider Seiten aufgrund der Weisungen aus den Zentralen zustimmen.
Also hängt es von der EU ab, ob die Schweiz die Zuwanderung mittels Kontingenten und Schweizervorbehalt steuern kann. Das ist keine „eigenständige Steuerung“ im Sinne der des MEI-Artikels.
Bis heute hat die EU keine Erklärung abgegeben, wonach sie in Zukunft auf das Einstimmigkeitsprinzip bei der Anwendung von Artikel 14 Absatz 2 PFZA verzichten wolle. Im Gegenteil: der Präsident der EU-Kommission hat im Januar 2016 bekräftigt, eine Anwendung von Artikel 14 Absatz 2 PFZA ohne Zustimmung der EU falle ausser Betracht.
Weshalb der Bundesrat in der schweizerischen Öffentlichkeit dennoch gegenteilige Erwartungen weckt, bleibt sein Geheimnis. Er verkennt, dass er mit dieser Taktik den Rechtsnationalen in die Hände spielt.
Voraussetzung für die Anwendung der sog. „Schutzklausel“ sind „schwerwiegende wirtschaftliche oder soziale Probleme“ in der Schweiz.
Der MEI-Artikel 121a BV vom 09.02.2014 kennt keine solchen Voraussetzungen.
Der Bundesrat will mit seinem Gesetzesvorschlag (17c/1 EAuslG) im Sinne der Rechtsnationalen erreichen, dass die EU eine bestimmte quantitative Grösse der Zuwanderung von EU- Bürgern als „schwerwiegendes wirtschaftliches oder soziales Problem“ der Schweiz anerkennt.
Die EU müsste sich also auf eine emotionale quantitative Bewertung der Zuwanderung als gefühlte Überfremdung einlassen, ohne Rücksichtnahme auf Fakten wie wirtschaftliche Entwicklung, Arbeitslosigkeit, Sicherheit, Ruhe und Ordnung, u.ä.
Wenn sie dies tut, schafft sie ein riskantes Präjudiz für die Anwendung der Binnenmarktregeln in allen übrigen 31 am Binnenmarkt beteiligten Ländern.
Es gibt überall Rechtsnationale, die auf das emotionale Kriterium der Überfremdung abstellen wollen. Der Grad der Lärmemissionen der Rechtsnationalen würde zum Kriterium für die gefühlte Unzumutbarkeit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer im europäischen Binnenmarkt.
Woher der Bundesrat seine Erwartung bezieht, die EU könnte im Interesse der Schweiz einen solch riskanten Schritt tun, bleibt im Dunkeln.
Die EU jedenfalls hat bisher nichts in dieser Richtung verlauten lassen. EU-Parlament, EU-Rat und EU-Kommission haben dem Bundesrat das Gegenteil signalisiert. Darüber spricht der Bundesrat nicht.
Der MEI-Artikel 121a BV verlangt die Kontingentierung der Zuwanderung von EU-Bürgern und den Schweizervorrang am Arbeitsmarkt.
Das Abkommen bestimmt, dass solche Massnahmen zu wählen sind, die das Funktionieren des Abkommens so wenig wie möglich beeinträchtigen und die befristet sind.
Wie weit eine Kontingentierung das Funktionieren des Abkommens beeinträchtigt, hängt von der Höhe des Schwellenwerts ab. Im Gesetzesentwurf des Bundesrates heisst es: „Der Bundesrat legt den Schwellenwert fest“ (17c/2 EAuslG). Und: „Bei der Festlegung des Schwellenwerts berücksichtigt der Bundesrat insbesondere die völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz.“ (17e/1/a EAuslG)
Der Bundesrat will demnach die Schwelle so hoch ansetzen, dass der Zugang der EU-Bürger zum CH-Arbeitsmarkt möglichst weitgehend erhalten bleibt. Ausserdem will er nur eine befristete Beschränkung erlassen.
Der MEI-Artikel 121a BV legt keinen Schwellenwert fest. Setzt der Bundesrat befristet den Schwellwert so hoch an, dass die Freizügigkeit der EU-Bürger nur geringfügig tangiert ist, wird das Abkommen nur geringfügig beeinträchtigt.
Anderseits kann dann wohl nur noch formal von einer Steuerung der Zuwanderung im Sinne des MEI-Artikels gesprochen werden.
Die Bewältigung politischer Probleme mittels Formalismus hat in der Schweiz Tradition. Man tut formell so, ändert aber materiell nichts. Die Umsetzung der Zweitwohnungsinitiative ist das letzte Beispiel.
Einen unbefristeten Schwellenwert unter der Arbeitsplatz-Nachfrage der EU-Bürger kann die Schweiz nicht dekretieren, solange sie mit dem PFZA am europäischen Binnenmarkt teilnimmt.
Die Abschaffung jeder auf der Staatsangehörigkeit beruhenden unterschiedlichen Behandlung der Arbeitnehmer gehört zu den Grundprinzipien des europäischen Binnenmarkts (Artikel 45 AEUV) und ist im Freizügigkeitsabkommen von der Schweiz übernommen worden (Artikel 2 PFZA). Dem- gegenüber verlangt der MEI-Artikel den Schweizervorrang am Arbeitsmarkt.
Beides geht nicht. Die EU kann unter dem PFZA keine Diskriminierung der EU-Bürger akzeptieren. Leute, die in der Schweiz den Inländervorrang als Patentlösung anpreisen, haben die Verträge nicht gelesen.
Der Bundesrat behilft sich in seinem Gesetzesvorschlag damit, dass er zwar den Schweizervorrang berücksichtigen will, aber nur unter dem Vorbehalt der völkerrechtlichen Verpflichtungen der Schweiz (17e EAuslG). Im Klartext heisst dies, dass der Schweizervorrang im Verhältnis zum europäischen Binnenmarkt entfällt.
Auch hier wählt der Bundesrat den Formalismus „so tun als ob“, um das Problem „Schweizervorrang“ aus der Welt zu schaffen.
Als Schlussfolgerung bleibt:
Die sog. „Schutzklausel“ nach Artikel 14 Absatz 2 PFZA zusammen mit dem bundesrätlichen Gesetzesvorschlag sind nicht geeignet, die Unvereinbarkeit von MEI-Artikel 121a BV und PFZA zu beheben.
Die Schweiz wird nicht darum herum kommen, darüber zu entscheiden, ob sie weiterhin am europäischen Binnenmarkt, dem heute 32 Länder angehören, teilnehmen und die Binnen- marktregeln einhalten will oder nicht.
Die Landesregierung sollte die Bevölkerung mit offener Kommunikation an diesen Entscheid heran- führen und nicht mit undurchsichtigem Taktieren die Vertrauenslage weiter erschüttern. Das Letztere hilft nur den Rechtsnationalen, ihre Machtposition im Land weiter auszubauen.
Diese verfolgen die bundesrätlichen Aktivitäten vom März 2016 daher auch mit Befriedigung.
06.03.2016