Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Am 29. März 2017 hat die britische Premierministerin Theresa May der EU mitgeteilt, Grossbritannien wolle aus der Europäischen Union austreten.
Sie selbst hatte im Referendum den Austritt abgelehnt, wandelte sich aber zur Speerspitze des Brexit und erklärte die Fernhaltung weiterer Europäer von den britischen Inseln zum Dogma.
Laut Lissabon-Vertrag sollen EU und austretender Staat ein Austrittsabkommen (Withdrawal Agreement) aushandeln.
Zwei Jahre nach der Austrittsmitteilung soll das europäische Recht im Verhältnis zum austretenden Staat keine Anwendung mehr finden, es sei denn beide Seiten verständigen sich auf eine Verlängerung.
Für UK ist die Frist am 29. März 2019 ohne Austrittsabkommen abgelaufen. Das Unterhaus lehnte das von May ausgehandelte Withdrawal Agreement auf Betreiben ihres parteiinternen Gegners Johnson drei Mal ab.
Indessen einigten sich UK und EU nach Artikel 50 EUV die Austrittsfrist bis 31.10.2019 zu verlängern.
Danach musste May am 24. Juli 2019 zurücktreten und ihr Amt ihrem Widersacher Boris Johnson überlassen.
Dieser nahm den ursprünglichen EU-Vorschlag einer EU-Zollgrenze in der Irischen See wieder auf. So soll eine Zollgrenze zwischen Irland und Nord-Irland im Sinne des Good Friday Abkommens von 1998 vermieden werden.
2018 hatte Theresa May hatte dazu unter Beifall von Johnson erklärt, kein britischer Premierminister könne einer solchen Lösung zustimmen.
Kaum war Johnson an der Macht, gab er diese Position auf. Die nordirischen Unionisten, die May gestützt hatten, sahen sich verraten.
Auf Begehren von UK verlängerte die EU die Austrittsfrist ein zweites Mal bis 31.01.2020.
In der Parlamentswahl 12. Dezember 2019 gaben die Briten Boris Johnson eine komfortable Tory-Mehrheit im Unterhaus. Das UK-Parlament stimmte am 20. Dezember 2019 dem Brexit-Gesetz mit 354: 243 Stimmen zu.
Das Gesetz legt zum einen den Austritt von UK per 31.01.2020 fest. Zum zweiten enthält es die Zustimmung zum Austrittsabkommen mit der EU (Withdrawal Agreement), das unter May drei Mal abgelehnt worden war.
Das Austrittsabkommen umfasst über 500 Seiten und bestimmt im Wesentlichen Folgendes:
Bis Ende Februar wird der EU-Gesetzgeber (EU-Parlament, EU-Rat) über das Austrittsabkommen beschliessen.
Die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen EU/UK können starten, sobald der EU-Rat der EU-Kommission ein Verhandlungsmandat erteilt hat. Verhandlungsführer der EU bleibt Barnier. Nach Vorliegen des Verhandlungsmandats lassen sich die Aussichten auf ein Resultat besser einschätzen.
Wie beim Austrittsabkommen werden die Briten damit rechnen müssen, dass das EU-Mandat den Spielraum für eine Durchsetzung ihrer Interessen eng beschränkt. Und: das Verhalten von Johnson ist nur insoweit berechenbar, als er stets den Weg des Machterhalts wählen wird.
Führen die Verhandlungen zu keinem Ergebnis und wird keine Verlängerung der Übergangsfrist vereinbart, werden sich die EU und UK ab 1. Januar 2021 gegenseitig als Drittstaaten ohne Abkommen behandeln.
Laut Austrittsabkommen könnte eine Verlängerung der Übergangsfrist Platz greifen, wenn Johnson spätestens bis am 30. Juni 2020 bei der EU ein entsprechendes Begehren stellt.
Laut UK-Brexit-Gesetz darf Johnson keine Verlängerung beantragen. Er selbst hat das im Unterhaus verlangt. Nach heutigem Stand ist davon auszugehen, dass die Übergangsfrist am 31.12.20 auch ohne Abkommen über die Beziehungen EU/UK endet.
Aber eben: Johnson ist unberechenbar – wie Trump.
Ab 1.1.21 partizipiert UK nicht mehr an den 75 EU-Freihandelsabkommen mit Drittstaaten, u.a. auch nicht mehr an jenem mit der Schweiz vom 22.07.1972. Mit über 20 Ländern hat die EU Verhandlungen über Freihandelsabkommen am Laufen. Ab Austritt sind die Briten daran nicht mehr beteiligt.
Für UK-Bürger, die sich ab 1.1.21 neu in einem EU-Mitgliedstaat aufhalten wollen, gilt das dortige Ausländerrecht. Für UK-Bürger, die in die Schweiz kommen wollen, gilt nicht mehr das Personenfreizügigkeitsabkommen, sondern das Schweizer Ausländerrecht.
Dazu gehört Artikel 121 BV aus der rechtsnationalen Küche, wonach die Schweiz den Zuzug von UK-Bürgern kontingentieren muss.
Umgekehrt gilt für Schweizer, die sich in UK aufhalten wollen, nicht mehr die Personenfreizügigkeit, sondern das UK-Ausländerrecht. Auch dort ist ein konditioniertes Kontingentsystem geplant.
Der Londoner Finanzplatz wird ab 1.1.21, ohne Abkommen, seine Geschäfte mit EU-Bürgern und EU-Unternehmen nicht mehr ungehindert von London aus betreiben können. Zuerst müsste er von der EU-Kommission eine Äquivalenzbescheinigung erhalten, was diese ohne Grundangabe verweigern kann.
UK-Farmer und UK-Fischer werden ab 1.1.2021 keine EU-Subventionen mehr erhalten. Über die Fangquoten in den EU-Gewässern einerseits und den UK-Gewässern anderseits wird es zu jahrelangen Auseinandersetzungen kommen.
Der ungehinderte Zutritt zum EU-Binnenmarkt entfällt für Produkte der britischen Bauern und Fischer, umgekehrt entfällt der ungehinderte Zutritt zum UK-Markt für die europäischen Bauern und Fischer.
UK-Unternehmen haben ab 1.1.21 keinen Anspruch mehr, ins öffentliche Vergabeverfahren der EU-Länder einbezogen zu werden (eingeschlossen die Schweiz), EU-Firmen (eingeschlossen CH-Firmen) umgekehrt nicht mehr in jenes von UK.
Auch wenn UK-Unternehmen bei Produkten und Dienstleistungen EU-Standards einhalten, erhalten sie damit keinen Rechtsanspruch auf Zutritt zum europäischen Markt.
Für Verhandlungen bleiben der EU und UK 10 Monate. Angesichts der Komplexität des Gegenstandes und der divergierenden Interessen dürfte diese Zeit nicht ausreichen, um ein umfassendes Freihandelsabkommen zu vereinbaren.
Boris Johnson und die britischen Tories sehen im Abbruch der Beziehungen zur EU den Start von UK ins Gelobte Land. Viele glauben an einen Neuaufstieg ihres Landes als Weltmacht mit imperialer Grösse in enger Partnerschaft mit Trumps Amerika und in Verbindung mit den ehemaligen britischen Kolonien im Commonwealth of Nations. Deswegen gibt die Regierung Unsummen für einen neuen Flugzeugträger aus.
Die Grundeinstellung der Tory-Mehrheit lautet: den europäischen Binnenmarkt brauchen wir nicht, wir haben die Welt. Die Europäische Union schadet uns nur. Rule, Britannia! Britannia rule the waves (1740).
Mit dem Ausschluss einer Verlängerung der Übergangsfrist im Brexit-Gesetz haben sich die Tories im Parlament selbst unter Druck gesetzt.
Sie akzeptieren den No-Deal ab 1.1.21 in Erwartung neuer internationaler Grösse ihres Landes unter Boris Johnson.
Die EU ihrerseits wird den Tories keinen roten Teppich für ein Freihandelsabkommen ausrollen.
Sie wird jeder Aushöhlung des europäischen Binnenmarkts entgegentreten und dem Drittland Grossbritannien den Marktzutritt nur gestatten, wenn dieses die gemeinsamen Binnenmarktregeln, vor allem im Dienstleistungssektor, aber auch im Warensektor, vollumfänglich und dauerhaft anerkennt.
Für einen Marktzutritt wird sie – analog dem Verhältnis zur Schweiz - einen spürbaren Kohäsionsbeitrag und Personenfreizügigkeit verlangen. Barnier ist wiederum EU-Verhandlungsführer. Tusk ist neu Präsident der Europäischen Volkspartei (EVP).
Die EVP stellt die grösste Fraktion im Europäischen Parlament. Beide werden nicht von ihren bisherigen Vorstellungen abrücken.
Denkbar ist, dass die EU und UK bis Ende 2020 ein Teilabkommen über Zollsenkungen im Industriebereich abschliessen. Das ist der einfachste Teil und in beidseitigem Interesse. Die Industrie-Zölle sind ohnehin tief.
Weit schwieriger ist das Thema Gemeinsame EU-Binnenmarkt-Standards. Johnson hat den Brexit u.a. erfolgreich mit dem Argument durchgesetzt, UK wolle die gemeinsamen EU-Binnenmarkt-Standards nicht mehr einhalten.
Bleibt er bei dieser Position, wird es zu keinem umfassenden Abkommen über den Binnenmarkt-Zutritt kommen, was sich v.a. für die britische Finanzindustrie als nachteilig herausstellen könnte.
Mit einiger Wahrscheinlichkeit wird die europäische Finanzindustrie in Zukunft von einem europäischen Standort aus wachsen.
Wenn Johnson – wie von Trump verlangt – US-Nahrungsmittelimporte nach US-Standards (in Chlor gewaschene Hühner, Hormonfleisch, Gen Food etc.) akzeptiert, werden die britischen Farmer und die britische Nahrungsmittelindustrie nichts nach Europa liefern können.
Die Meinung von Johnson, wenn UK ab dem 1.1.21 vorläufig die EU-Standards unilateral über UK-Gesetze beibehalte, seien die Verhandlungen über den Binnenmarktzutritt einfach, dürfte kaum zutreffen.
Nur wenn sich UK in einem Vertrag zur dauerhaften Einhaltung der EU-Binnenmarktstandards verpflichtet, wird der Zutritt gewährt werden. Gerade das will Johnson laut seinen Aussagen („Take back control“) nicht. Seine schnelle Wende in der Nordirlandfrage zeigt aber, dass er seine Ansichten in kürzester Frist um 180 Grad drehen kann, wenn es dem Machterhalt dient.
Da Johnson das Brexit-Referendum mit fremdenfeindlicher Stimmungsmache gegen Bürger aus andern EU-Ländern gewonnen hat, wird ihm eine Kehrtwende im Punkt Personenfreizügigkeit am schwersten fallen. Aber - anders als seine Vorgängerin - ist Johnson in dieser Frage kein Dogmatiker. Die EU ihrerseits wird sich nicht auf ein UK-Rosinenpicken einlassen, weil sonst der Binnenmarkt fundamental untergraben wird.
Akzeptiert UK die EU-Binnenmarkt-Standards, die Personenfreizügigkeit und die Zahlungen an den EU-Kohäsionsfonds befindet sich Grossbritannien praktisch in derselben Lage wie die Schweiz seit den Bilateralen: Grossbritannien übernimmt das EU-Recht und bezahlt an die EU, hat aber nichts zum europäischen Recht zu sagen.
Eine solche Rolle als Rule Taker gegenüber der EU, welche die Schweiz mit den Bilateralen akzeptiert hat, widerspricht fundamental den imperialen Ideen der britischen Tories.
Sie haben die Schweizer Position als unerträgliches Vasallentum gebrandmarkt.
In einer Lage analog der bilateralen Schweiz müssten sich die Briten fragen, weshalb sie aus der EU ausgetreten sind.
Das von den Tories immer wieder erwähnte EU-Kanada-Freihandelsabkommen (Ceta) wurde während mehr als einem Jahrzehnt verhandelt und umfasst gegen 2000 Seiten. Keine Vorlage für einen schnellen, einfachen Vertrag bis 31.12.2020.
Die Schweiz wird 2020 aus EU/UK-Verhandlungen einige Schlussfolgerungen über ihr künftiges Verhältnis zu Europa ziehen können.
So unterschiedlich können die Gefühle in der gleichen Sache sein: Der Bundesrat hat den Bilateralismus zum „Königsweg“ erhoben. Die britischen Tories sehen darin Vasallentum.
Die demokratische Debatte hier wie dort ist emotional und irrational. Sie wird von den Rechtsnationalen alimentiert: Fremdenfeindlichkeit und Nationalismus stehen im Zentrum.
Die Regierungen folgen den Rechtsnationalen, sei es wegen geteilter Ideologie oder aus Machtinteressen.
In diesem nebulösen Umfeld fallen 2020 Entscheide, die das europäische Projekt und die Stellung der Schweiz in Europa massgeblich beeinflussen werden.
Will die Schweiz immer mehr in die Position eines Vasallen auf dem Königsweg versinken, oder will sie gleichberechtigt mit den übrigen europäischen Ländern die Zukunft des Kontinents in geteilter Souveränität mitbestimmen?
Die Frage ist gestellt, die Antwort steht aus.
22.12.2019