Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Für das Verhältnis zu Drittstaaten, die sich am europäischen Binnenmarkt beteiligen möchten, hat die EU verschiedene Instrumente entwickelt: gegenseitige Anerkennung (mutual recognition), Äquivalenz (equivalence), Passport (passporting).
Die aktuellen Kontroversen der Schweiz mit der EU über den Zugang der Schweizer Börse, der Schweizer Banken oder der Schweizer Produzenten von Medizinprodukten zum europäischen Binnenmarkt haben mit diesen Instrumenten zu tun.
Anhängig sind gegen zwanzig Bereiche von Produkten oder Dienstleistungen, für welche die Schweiz eine Äquivalenzerklärung der EU-Kommission oder eine „gegenseitige“ Anerkennung (u.a. Stromhandel) erhalten möchte.
Das seit 1. Juni 2002 anwendbare Abkommen zwischen der Schweiz und der EU über die gegenseitige Anerkennung von Konformitätsbewertungen ist Teil der Bilateralen Verträge. Das Abkommen gilt für Investitions- und Konsumgüter, nicht aber für Dienstleistungen.
Es sieht vor, dass die Schweiz die im europäischen Binnenmarkt geltenden Produktevorschriften (acquis communautaire) laufend zu übernehmen hat. Tut sie dies, können die entsprechenden schweizerischen Produkte im Binnenmarkt zum Verkauf angeboten werden.
Weitaus die meisten Anpassungen von CH-Produktevorschriften laufen per Verordnung auf Verwaltungsebene ab. Der ordentliche eidgenössische Gesetzgeber (Parlament und Volk) hört und weiss davon nichts.
Das gilt für Vorschriften über Autos, Lastwagen, gefährliche Stoffe, Chemikalien, Biozidprodukte, Arzneimittel, Laborleistungen, Bauprodukte, Baumaschinen, Messgeräte, Fertigverpackungen, Telekommunikationsgeräte, Aufzüge, Seilbahnen, Sprengstoffe, Spielwaren und vieles mehr.
Seit 16 Jahren übernimmt die Schweiz alle von der EU erlassenen Produktregeln, eben den acquis communautaire, praktisch ohne Resonanz in der Öffentlichkeit.
Aktuell geht es um die Übernahme neuer Binnenmarkt-Regeln für Medizinalprodukte. Ausnahmsweise ist hier eine Gesetzgebung notwendig.
Zu den in der Schweiz geltenden Binnenmarktregeln für Produkte hat die Schweiz nichts zu sagen, da der Bundesrat – den Rechtsnationalen folgend - eine Vertretung der Schweiz im EU-Parlament, im EU-Rat und in der EU-Kommission ablehnt.
Die Schweiz ist im Rahmen der „gegenseitigen“ Anerkennung in jeder Hinsicht blosser Ruletaker.
Der Binnenmarkt übernimmt nach den Bilateralen Verträgen keine Schweizer Regeln. Korrekterweise dürfte man daher auch nicht von „gegenseitiger“ Anerkennung sprechen, handelt es sich doch faktisch um eine einseitige Anerkennung der Binnenmarktregeln durch die Schweiz.
Das diplomatische Wording in den Bilateralen Verträgen erweckt einen falschen Eindruck.
Stellt die EU fest, dass die Schweiz die Binnenmarktregeln nicht einhält oder neue Regeln nicht übernimmt, kann sie die Anwendung des Abkommens ganz oder teilweise aussetzen.
Wenn also die Anpassung des CH-Medizinproduktegesetz im Parlament oder im Referendum scheitert, kann die EU, wenn es in ihrem Interesse liegt, allen Schweizer Produkten den Zugang zum Binnenmarkt verwehren.
Natürlich kann auch die Schweiz – im Gegenzug so wie es die Rechtsnationalen empfehlen – den EU-Produkten den Zugang zum Schweizer Markt verbieten. Eine stumpfe Waffe: im Binnenmarkt leben 500 Millionen Konsumenten, in der Schweiz 8 Millionen.
Die Schweizer Wirtschaft müsste sich aus der eng vernetzten europäischen Güterproduktion ausklinken und würde praktisch still gelegt.
Überall dort, wo die Schweiz ausserhalb der Bilateralen Verträge am Binnenmarkt partizipieren möchte, kommt das EU-Instrument Äquivalenz zum Zug.
Hauptanwendungsbereich sind grenzüberschreitende Dienstleistungen, also z.B. Dienstleistungen der Börse oder von Banken und Versicherungen.
Der Bundesrat hatte ursprünglich geplant, grenzüberschreitende Dienstleistungen durch deren Einbezug in die Bilateralen II zu ermöglichen.
Die Vertreter der Banken und Versicherungen haben das 2006 abgelehnt, weil sie das grenzüberschreitende Bankgeheimnis für alle Zukunft absichern und ihren bestimmenden Einfluss auf die eidgenössische Finanzmarktgesetzgebung bewahren wollten.
Der Bundesrat hat sich dem unterworfen und der Finanzwirtschaft versprochen, das grenzüberschreitende Bankgeheimnis, das vor allem von reichen ausländischen Steuerflüchtlingen genutzt wurde, mit Zähnen und Klauen zu verteidigen.
Allerdings hat bereits sechs Jahre später BR Widmer-Schlumpf das grenzüberschreitende Bankgeheimnis ohne Widerrede der Schweizer Finanzvertreter, sang- und klanglos fallen lassen und den automatischen Informationsaustausch eingeführt.
Ausserdem übernimmt der Bundesrat seit 2010 laufend die EU-Normen in die CH-Gesetzgebung (sog. autonomer Nachvollzug). Auch das ohne Widerrede der Finanzvertreter.
Einzelne Versicherungsvertreter, z.B. von Swiss Life, wehren sich heute noch gegen ein Dienstleistungsabkommen.
Sie wollen den Schweizer Markt mit seinem hohen Prämienvolumen weiterhin für sich abschotten. Deutschen, französischen und italienischen Versicherern soll es verboten bleiben, grenzüberschreitend Schweizer Kunden günstigere Policen zu verkaufen.
Ausserdem lehnen sie die zum Schutz der Versicherungskunden erlassenen Binnenmarkt-Regeln der Richtlinien (EU) 2016/97 über den Versicherungsvertrieb ab. Swiss Life nimmt damit dieselbe protektionistische Position ein wie die Landwirtschaft.
Da der Weg für ein Dienstleistungsabkommen verbaut ist, setzt der Bundesrat auf das Instrument Äquivalenz. Die Bankenlobby verlangt vom Bundesrat mit Nachdruck, von der EU die Anerkennung der Schweizer Finanzmarktregulierung (Finfrag, Fidleg, Finig etc.) zu fordern.
Dabei geht es um den Zugang der Banken zum europäischen Binnenmarkt für den grenzüberschreitenden Wertpapierhandel, das grenzüberschreitende Derivategeschäft, das grenzüberschreitende Firmenkundengeschäft, das grenzüberschreitende Fondsgeschäft und anderes mehr.
Die Schweizer Banken wollen europäische Pensionskassen und reiche europäische Kunden, auch ausserhalb der Vermögensverwaltung, grenzüberschreitend bedienen.
EU-Parlament und EU-Rat haben nach der Finanzkrise 2008 neue Binnenmarkt-Regeln für den Finanzmarkt erlassen, so:
Im Äquivalenz-Verfahren befindet unilateral die EU-Kommission darüber, ob eine Schweizer Regulierung gleichwertig (äquivalent) zu den Regeln des europäischen Binnenmarkts ist. Die Schweiz als Drittland hat weder nach EU-Recht, noch nach den Bilateralen einen Rechtsanspruch auf einen Gleichwertigkeitsbeschluss der Kommission, selbst wenn technisch die Gleichwertigkeit nicht bestritten ist.
Die EU kann den Gleichwertigkeitsbeschluss von ihren eigenen politischen Interessen, auch ausserhalb der Materie des betroffenen Bereichs, abhängig machen.
Das ist gegenüber der Schweiz geschehen: die EU hat im Dezember 2017 die Gleichwertigkeit der Schweizer Börsenregulierung nur für ein Jahr akzeptiert, weil der Bundesrat bisher gemeinsame Regeln zur Durchsetzung des in der Schweiz aufgrund der Bilateralen Verträge geltenden europäischen Binnenmarktrechts ablehnt.
Unter dem Instrument Äquivalenz ist die Schweiz Bittsteller. Die Abweisung von Äquivalenz-Bitten durch die EU-Kommission mag solange ohne Bedeutung sein, als der betroffene Wirtschaftssektor für die Schweiz unbedeutend ist oder nur in geringem Umfang grenzüberschreitende Geschäfte tätigt.
Für den Finanzmarkt trifft beides nicht zu. Darum bedrängen die Banken den Bundesrat. Die Schweizerische Bankiervereinigung fordert aktuell einen raschen Gleichwertigkeitsbeschluss der EU im Finanzmarktregulierungsbereich.
Den Schweizer Banken müsse ein abgesicherter Rechtsanspruch auf Zugang zum Binnenmarkt eingeräumt werden.
Die Banken müssen sich nicht an die EU, sondern an Bundesrat und Parlament wenden. Seit vier Jahren ist bekannt, dass die EU mit der Schweiz keine weiteren Vereinbarungen schliessen möchte, solange der Bundesrat gemeinsame Regeln zur Durchsetzung des Binnenmarktrechts in der Schweiz ablehnt.
Bundesrat und Parlament beharren auf dem Standpunkt, die Schweiz müsse die für alle andern 31 Binnenmarktländer massgebenden Urteile des EuGH zur Auslegung und Anwendung des Binnenmarktrechts nicht anerkennen, sondern könne unilateral entscheiden, ob und welche Regeln des für die Schweiz geltenden europäischen Binnenmarktrechts sie anwenden will.
Aktuelles Paradebeispiel ist die sog. 8-Tage-Regel: mit dieser protektionistischen Regel, die dem in der Schweiz geltenden Binnenmarktrecht widerspricht, sollen EU-Handwerksbetriebe von grenzüberschreitenden Arbeiten in der Schweiz abgehalten werden.
Der Bundesrat hat die 8-Tage-Regel zur roten Linie erklärt und sich damit innen- und aussenpolitisch seinen Handlungsspielraum unnötig verbaut.
Solange die Regierung diesen Standpunkt einnimmt, steht die Schweiz als Äquivalenz-Bittstellerin auf verlorenem Posten.
Selbst wenn dieses Hindernis beseitigt ist, versinkt die Schweiz mit dem Äquivalenzverfahren immer mehr in die Rolle eines Ruletakers, ohne jeden Einfluss auf die Gestaltung der Binnenmarktregeln.
Die Schweiz wird in diese einseitige Abhängigkeit gedrängt, weil in Zukunft in immer mehr Bereichen der Wirtschaft die Regeln des europäischen Binnenmarkts massgebend sein werden.
Da der Bundesrat – auf Druck der Rechtsnationalen - freiwillig auf eine Mitwirkung in den massgebenden Gremien des europäischen Binnenmarktes verzichtet, wird sich die Schweiz mit der zunehmend einseitigen Abhängigkeit als Bittstellerin in Äquivalenz-Verfahren abfinden müssen.
Souveränitätspolitisch eine unerfreuliche Perspektive.
Dienstleister mit Sitz im EWR sind berechtigt, mit einer einzigen EWR-Lizenz (Passport) alle Kunden im EWR, also in 31 Binnenmarkt-Ländern mit über 500 Mio. Konsumenten, zu bedienen.
Aufgrund einer massiven Nein-Kampagne der Oligarchen aus dem rechtsnationalen Lager hat das Schweizer Stimmvolk am 6. Dezember 1992 den Beitritt zum Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) abgelehnt. Deswegen gibt es für Schweizer Unternehmen auch keinen Passport. Der Passport steht nur drei Drittstaaten zur Verfügung: den EWR-Ländern Norwegen, Island und Liechtenstein.
Wenn keines der drei Instrumente (Gegenseitige Anerkennung, Gleichwertigkeit, Passport) zum Zuge kommt, bleibt den Schweizer Unternehmen, die im europäischen Binnenmarkt tätig sein möchten, nur der Ausweg über die Gründung einer Niederlassung im europäischen Binnenmarkt, mit Verlegung von Arbeitsplätzen und Investitionen.
Allen drei Instrumenten ist gemeinsam, dass der Drittstaat, auch die Schweiz mit ihren Bilateralen Verträgen, nichts zu den europäischen Binnenmarktregeln zu sagen hat, sie aber im eigenen Land anwenden muss.
Der Bundesrat umschreibt diese Situation als "Königsweg der Schweiz". Ein seltsamer König.
14.07.2018