Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Bilateralismus, aber fair



Im Mai 2024 veröffentlicht eine „Arbeitsgruppe fairer Bilateralismus“ ein Papier zur aktuellen schweizer Europapolitik.

Die Publikation trägt den Titel „Ein neues Narrativ zum Verhältnis zwischen der Schweiz und der EU“ (fairerbilateralismus.ch/narrativ).

Als Autoren zeichnen: A. Berner, G. Baur, H. Buhofer, H. Hess, K. Hummler, Ch. Schaltegger, G. Schwarz, O. Zimmer.

Argumente aus der Publikation werden am 24. Mai 2024 in einem Artikel in der NZZ vorgestellt.

Die Arbeitsgruppe stützt sich z.T. auf die Publikationen

  • Ambühl / Scherer, Bilaterale III, EIZ-Publishing, 2022.
  • und

  • Felbermayr / Heiland / Mosler / Schaltegger, Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU: Quantitative Bewertung unterschiedlicher Szenarien der zukünftigen Zusammenarbeit, Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern, 2023.

Forderungen an den Bundesrat

Für die laufenden Verhandlungen mit der EU stellt die „Arbeitsgruppe fairer Bilateralismus“ folgende Forderungen an den Bundesrat:

  • Eine Rechtsharmonisierung darf nur dort akzeptiert werden, wo sie für die Schweiz keine kritischen Bereiche betrifft.
  • In kritischen Bereichen braucht die Schweiz ein „Opting-Out“.
  • Die Nichtübernahme von EU-Recht soll von der Schweiz monetär dort abgegolten werden, wo sie der EU nachvollziehbaren Schaden verursacht.
  • Eine Involvierung des EuGH ist generell abzulehnen.
  • Unionsbürger dürfen nur soweit Zugang zum schweizer Sozialversicherungssystem erhalten als sie Leistungen über schweizer Einzahlungen erworben haben.
  • Ein allfällig revidiertes Freihandelsabkommen darf keinen institutionellen Regeln unterstellt werden.
  • Weitere Kooperationsabkommen können geprüft werden, soweit sie von Interesse sind.

Bilateralismus

Unter rechtsnationaler SVP/FDP-Führung betrachtet der Bundesrat seit 2005 den Bilateralismus als Königsweg der Schweiz.

Daran will die Arbeitsgruppe nicht rütteln. Im Gegenteil: sie betrachtet den schweizer Bilateralismus als eine Lösung mit Zukunftspotential für ganz Europa.

Länder wie Italien, Spanien, Grossbritannien und die Schweiz sollten sich danach bilateral mit der EU assoziieren, weil sie sich eine Integration nicht leisten können (Italien, Spanien) oder sich eine Integration nicht leisten wollen (Grossbritannien, Schweiz).

„Ein solches Nebeneinander unterschiedlicher Anbindungsgrade verspräche mehr Vielfalt, Innovation und Wohlstand für ganz Europa“ meint die Arbeitsgruppe.

Die Folgen des Brexit vom 23. Juni 2016 für UK werden nicht kommentiert.

UK durchlebt seit dem Brexit eine politische und wirtschaftliche Krise. Seit 2016 haben sich wegen der schlechten Lage erfolglos fünf Premierminister der Tory-Regierung abgelöst (Cameron, May, Johnson, Truss, Sunak).

Die Krise dauert an.

Boris Johnson, Tory-Premier vom 24.07.19 bis 06. 09.22, Wortführer der Anti-EU-Kampagne, versprach dem UK-Volk mit dem Brexit ungeahnten Wohlstand und Wiedergewinnung imperialer Grösse. Das Volk glaubte ihm, wartet aber noch darauf und verliert die Geduld.

Vermutlich wird die Tory-Partei an der im Juni 2024 bevorstehenden Parlamentswahl für die falschen Versprechen abgestraft.

Keine Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung

Kernelement des Bilateralismus ist der freiwillige Verzicht der Schweiz auf jede Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung in den europäischen Institutionen.

Das europäische Recht wird gemeinsam vom europäischen Parlament und vom europäischen Rat erlassen. Eine Beteiligung an diesen Institutionen kommt für den Bundesrat und die Mehrheit des CH-Parlaments nicht in Frage.

Die Schweiz übernimmt im Bilateralismus in grossem Umfang laufend direkt über die Verträge und indirekt über den autonomen Nachvollzug europäisches Recht, an dessen Erlass das Land in keiner Weise beteiligt ist.

Es trifft zu, dass sich die Schweiz mit dem Bilateralismus in keiner fairen Position befindet. Indessen hat sie diese Position auf Empfehlung der rechtsnationalen SVP nach Ablehnung des EWR-Vertrags (6. Dezember 1992) selbst gewählt.

Die SVP/FDP-Regierungsmehrheit hat der Bevölkerung seit 2005 den Bilateralismus als Königsweg verkauft, obwohl es sich souveränitäts- und demokratiepolitisch um eine Sackgasse handelt.

Die Arbeitsgruppe blendet die fehlende Beteiligung der Schweiz an der europäischen Gesetzgebung aus. Sie möchte sie mit der Forderung kompensieren, die EU müsse der Schweiz das Recht zugestehen, sich am europäischen Binnenmarkt zu beteiligen, ohne die damit verbundenen Pflichten zu übernehmen.

Eine Forderung ohne Realitätsbezug.

Exzeptionalismus

Laut Arbeitsgruppe versucht die EU die Schweiz mit handfesten Druckversuchen und „mit populistischen Vorwürfen wie jenem des Rosinenpickens“ zum Einlenken zu einem Rahmenabkommen zu bewegen.

„Die Schweiz will als Partnerin behandelt und nicht als kleiner Staat durch die mächtige EU mit Argumenten wie «alles oder nichts» zu Dingen gezwungen werden, die mit den eigenen Werten und demokratischen Systemen nicht vereinbar sind“ sagt die Arbeitsgruppe.

Die Forderungen der Arbeitsgruppe an den Bundesrat machen klar, dass das bisher mit dem Bilateralismus angestrebte Rosinenpicken fortgeführt werden soll.

Die Schweiz will alle Rechte eines Binnenmarktbeteiligten ausüben können, aber die damit verbundenen Pflichten nur selektiv nach eigenem Gutdünken übernehmen. Die Arbeitsgruppe will den europäischen Binnenmarkt nicht als multilaterale Organisation mit gemeinsamen Regeln anerkennen.

Wie der Bundesrat behandelt sie die EU wie einen Staat dem die Schweiz völkerrechtlich als gleichwertig „auf Augenhöhe“ gegenübertreten müsse.

Wer in Verhandlungen ein falsches Bild vom Verhandlungsgegner pflegt, verdirbt sich seine Chancen auf ein positives Ergebnis selbst.

Mit der geforderten unilateral möglichen, selektiven Ablehnung des gemeinsamen Rechts durch einzelne Beteiligte kann eine multilaterale Rechtsordnung wie der europäische Binnenmarkt nicht funktionieren.

Wenn sich jedes Land nur dort an die gemeinsamen europäischen Regeln halten will, wo es ökonomische Vorteile erwartet, dort aber wo es ökonomische Nachteile vermutet – wie zB die Schweiz im Grenzverkehr für Handwerksbetriebe -, protektionistisch reagiert und die Einhaltung verweigert, dann gibt es keinen europäischen Binnenmarkt.

Diese Feststellung entspricht der Logik und hat nichts „Populistisches“ an sich.

Die Arbeitsgruppe vertritt einen schweizerischen Exzeptionalismus. Sie meint, die Schweiz nehme unter allen europäischen Ländern eine Sonderstellung ein. Verfassung und Politik seien einmalig und hätten gegenüber allen andern gesellschaftlichen Ordnungssystem in Europa einen Vorrang. Die andern Ländern müssten von der Schweiz lernen, nicht umgekehrt.

Solche Ansichten sind in der Politik und in den Medien verbreitet und werden mit der Neutralitätsdogma verknüpft.

Das Problem dieser Sichtweise besteht darin, dass sie nur im Selbstbild der Schweiz anerkannt ist und nicht im europäischen Ausland. Anders als die USA verfügt die Schweiz über keine Machtmittel, um ihre Ideologie des nationalen Exzeptionalismus international durchzusetzen.

Rechtsharmonisierung

Das europäische Recht gewährleistet den Europäern vier Grundfreiheiten:

  • Unionsbürger haben das individuelle Recht, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, Dienstleistungen in ganz Europa zu erbringen.
  • Unionsbürger haben das individuelle Recht, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, ihr Geld in ganz Europa frei nach ihren Bedürfnissen zu transferieren.
  • Unionsbürger haben das individuelle Recht, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, in ganz Europa zu wohnen und selbständig oder unselbständig zu arbeiten.
  • Unionsbürger haben das individuelle Recht, unabhängig von der Staatsangehörigkeit, produzierte Waren in ganz Europa frei anzubieten und zu liefern.

Mit diesen Rechten der Unionsbürger ist die Pflicht der beteiligten Länder verbunden, das europäische Recht für ihr Territorium anzuerkennen und zu vollziehen.

Die Arbeitsgruppe begrüsst durchaus die Rechte der Unionsbürger und möchte sie auch für Schweizer in Europa gelten lassen.

Die damit verbundene Pflicht, das europäische Recht anzuerkennen, lehnt sie jedoch für die Schweiz ab.

Die Schweiz solle – anders als alle andern beteiligten Länder – selbst entscheiden, welche Normen des europäischen Rechts sie als Beteiligte am europäischen Binnenmarkt akzeptieren will und welche nicht.

Daher kommt die Forderung nach einem verbrieften Recht zum unilateralen Opting-Out. Diese Forderung stellten bereits Ambühl / Scherer 2022 auf.

„Kritische Bereiche“

In „kritischen Bereichen“ soll nach Ansicht der Arbeitsgruppe das Opting-Out zum Zuge komme.

Was sind kritische Bereiche? Gemeint sind Grundfreiheiten der Europäer, die in der Schweiz nicht oder nur reduziert zum Zuge kommen sollen.

Europäer haben das Recht in allen europäischen Ländern Arbeitsstellen anzutreten und im Land der Arbeitsstelle zu wohnen. Dieses Recht soll die Schweiz unilateral für das Territorium der Schweiz aufheben können. Die Schweizer verlören dann auch das Recht, in Europa nach ihrer Wahl zu arbeiten und sich niederzulassen.

Europäische Handwerksbetriebe (auch schweizer) haben sodann das Recht, in allen Ländern des Binnenmarkts grenzüberschreitend ihre Dienstleistungen anzubieten und auszuführen. Auch dieses Recht soll die Schweiz unilateral aufheben oder beschränken können, um das einheimische Gewerbe vor Konkurrenz zu schützen.

Europäer (auch Schweizer), die in einem Land fünf Jahre gearbeitet und Sozialversicherungsbeiträge bezahlt haben, haben das Recht bei Arbeitslosigkeit oder Arbeitsunfähigkeit (Unfall, Krankheit, Invalidität) im Land zu verbleiben und dieselben Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen wie ein Arbeitnehmer mit nationaler Identität in gleicher Lage und gleichen Beiträgen. Auch dieses Recht soll die Schweiz unilateral mit Opting-out aufheben oder beschränken können.

Die Arbeitsgruppe möchte, dass die Schweiz die individuellen europäischen Grundfreiheiten im Territorium der Schweiz unterbinden kann, wenn eine politische Mehrheit im Land dies will. Rechtfertigungsgründe braucht die einheimische Politik dazu keine. Ausländerfeindlichkeit, Protektionismus oder Nationalismus würden genügen.

Ein Verständnis von Fairness, das sich gegen die individuelle Freiheit in Europa richtet und kollektiven Nationalismus höher bewertet.

Ausnahmen vom europäischen Recht gegen Geldzahlung

Das Opting-out muss die EU der Schweiz zubilligen, ohne dass der Schweiz im Binnenmarkt Rechtsnachteile entstehen. Das ist die Ansicht der Arbeitsgruppe, die sie von Ambühl / Scherer übernommen hat.

Die Schweiz soll sich mit einer Geldzahlung selektiv, nach eigenem Gutdünken vom europäischen Recht befreien können.

Schweizer Geld soll aber nur fliessen, wenn die EU nachweist, dass ihr durch die Nichteinhaltung des europäischen Binnenmarktrechts seitens der Schweiz ein monetärer Schaden entsteht.

Die EU müsste also beispielsweise nachweisen, dass die jetzige vertragswidrige Diskriminierung der EU-Handwerksbetriebe aus den Nachbarländern durch schweizer Vorschriften der EU einen geldwerten Schaden verursacht. Eine hohe Hürde als Freipass für die Fortführung der Diskriminierung, da der Schaden bei den Handwerksbetrieben und nicht bei der EU anfällt.

Wenn eine politische Ordnung zulässt, dass sich einzelne Personen gegen Geld vom gemeinsamen Recht frei kaufen können, fällt die Rechtsstaatlichkeit und lauert die Korruption.

Im Verhältnis der am europäischen Binnenmarkt beteiligten Länder zum gemeinsamen europäischen Recht ist das nicht anders.

Die Vorstellung, wer Geld hat, dürfe sich alles erlauben, ist verbreitet, untergräbt aber den sozialen Zusammenhalt in jedem Kontext.

Sie steht in offenem Widerspruch zur Zielsetzung der europäischen Verträge.

Keine europäische Rechtsprechung, kein EuGH

Die Arbeitsgruppe schliesst die Geltung von Urteilen des EuGH zum europäischen Recht für die Schweiz aus.

In jeder rechtsstaatlich strukturierten Organisation braucht es ein oberstes Gericht, das über die Auslegung und Anwendung des gemeinsamen Rechts befindet. Existiert kein solches Gericht, fehlt die Rechtsstaatlichkeit.

Die Europäer organisieren den Binnenmarkt seit über 30 Jahren nicht willkürlich nach Machtverhältnissen, sondern rechtsstaatlich. Nur eine solche Organisation gewährleistet den einzelnen Unionsbürgern ihre individuellen Grundfreiheiten im Verhältnis zu staatlichen Machtstrukturen.

Die Schweiz soll sich am europäischen Binnenmarkt beteiligen, aber dessen rechtsstaatliche Organisation nicht anerkennen. Das ist die Meinung der Arbeitsgruppe. Sie deckt sich mit den Ansichten der einheimischen Rechtsnationalen, welche die Europapolitik des Bundesrates dominieren.

Der geforderte Ausschluss des EuGH richtet sich auch gegen schweizerische juristische und natürliche Personen, die im europäischen Binnenmarkt tätig sind. Der Rechtsweg an den EuGH wird ihnen verweigert, wenn schweizer Gesetze, Behörden oder Gerichte europäisches Binnenmarktrecht verletzen.

In ihrem NZZ-Artikel vom 22.05.24 meinen drei Mitglieder der Arbeitsgruppe (H. Buhofer, H. Hess, K. Hummler), die EU könnte möglicherweise mit „einer angemessenen Erhöhung der Schweizer Finanzzahlungen“ dazu gebracht werden, mit der Schweiz neue Abkommen abzuschliessen, ohne auf der Übernahme des EU-Binnenmarktrechts und der Rolle des EuGH zu beharren.

Das widerspiegelt die in der CH-Wirtschaft verbreitete Auffassung, die Schweiz als reiches Land könne sich mittels Geldzahlungen die Vorteile des europäischen Binnenmarkt sichern, ohne die gemeinsamen Binnenmarktregeln einhalten zu müssen.

Die Erwartung der Arbeitsgruppe, die EU werde wegen Geldzahlungen aus der Schweiz auf die Rechtsstaatlichkeit ihrer Organisation und die Umsetzung der Grundfreiheiten verzichten, überzeugt nicht.

Modernisiertes Freihandelsabkommen (FTA)

Die Arbeitsgruppe befürwortet eine „Modernisierung des 50-jährigen Freihandelsabkommens“. „Dieses darf aber nicht den institutionellen Regelungen der Marktzugangsabkommen unterstellt werden“ sagt die Arbeitsgruppe.

FTAs sind Marktzugangsabkommen.

Die EU verlangt in ihren FTAs, soweit diese auf EU-Binnenmarktrecht Bezug nehmen, dass das installierte FTA-Schiedsgericht Streitigkeiten dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Entscheidung vorlegt. Die Entscheidung des EuGH ist für das Schiedspanel bindend.

Auch ein modernisiertes FTA CH/EU wird auf Bestimmungen des EU Binnenmarktrechts Bezug nehmen. Das gilt für die Bereiche Zoll- und Handelserleichterungen, technische Handelshemmnisse, gesundheitspolizeiliche und pflanzenschutzrechtliche Massnahmen, Niederlassung, Dienstleistungshandel, elektronischer Geschäftsverkehr, öffentliches Beschaffungswesen, Wettbewerb etc.

Die Forderung der Arbeitsgruppe, aus einem modernisierten FTA die Rechtsprechung des EuGH auszuschliessen, ist aussichtslos.

Forderungen der Gewerkschaften

Nach dem Common Understanding Paper CH/EU vom 27.10.23 (Ziffer 14) akzeptiert die EU, dass in der Schweiz die verwaltungsrechtlichen Kontrollen am Arbeitsmarkt nicht von staatlichen Behörden sondern von privaten Gewerkschafts- und Gewerbeverbänden durchgeführt werden.

Die vom Bundesrat geforderte Regelung ist ein Erfolg zugunsten der Partikularinteressen der Gewerkschafts- und Gewerbeverbände. Diese Organisationen führen die Kontrollen von EU-Handwerksbetrieben gegen Entschädigung aus Steuermitteln durch.

Es liegt auf der Hand, dass die Verbände auf die Einkommensquelle in Höhe mehrerer Millionen CHF pro Jahr nicht verzichten wollen. Sie finanzieren damit teilweise ihre Verbandsstrukturen.

Die Gewerkschaftsverbände geben sich indessen mit diesem Erfolg nicht zufrieden. Innenpolitisch fordern sie die Ausweitung und Allgemeinverbindlichkeit der Gesamtarbeitsverträge (GAV). Nur dann wollen sie einer Vereinbarung mit der EU zustimmen.

Wenn Arbeitnehmer gewerkschaftlich organisiert sind, können die Gewerkschaftsverbände GAV-Verhandlungen führen. In zahlreichen Branchen fehlt eine hinreichende Zahl Gewerkschaftsmitglieder, mancherorts ist sie abnehmend.

Um diesem Trend entgegen zu wirken, verlangen die Gewerkschaftsverbände Allgemeinverbindlichkeit. GAVs sollen auch dort gelten, wo kein hinreichender gewerkschaftlicher Organisationsgrad besteht.

Die Gewerkschafts- und Arbeitgeberverbände verwalten die GAVs gegen Entschädigung durch Arbeitnehmer und Arbeitgeber, ebenfalls eine wichtige Einnahmenquelle für die Verbandssekretariate.

Derzeit sind in der Schweiz ca. 1.1 Mio. Arbeitnehmer und ca. 80‘000 Arbeitgeber allgemeinverbindlichen GAV’s unterstellt.

Weil die rechtsnationale SVP jede Vereinbarung mit der EU in einer Volksabstimmung bekämpfen will, rechnen sich die Gewerkschaftsverbände grosse Chancen aus mit ihrer GAV-Forderungen durchzukommen.

Mitglieder der Arbeitsgruppe aus der Wirtschaft stellen in ihrem NZZ-Artikel vom 22.05.24 die Ampeln zur GAV-Forderung auf rot. Sie sagen „der Spielraum unseres liberalen Arbeitsmarktes darf nicht weiter eingeschränkt werden, auch wenn dies das Ende des bilateralen Wegs bedeuten sollte.“

Das erinnert an den Brexit. Die Schweiz soll auf die Beteiligung am europäischen Binnenmarkt verzichten, wenn die Gewerkschaftsverbände innenpolitisch auf ihrer GAV-Forderung beharren.

Aufgrund des Verhaltens der Gewerkschaftsverbände ist es nicht unwahrscheinlich, dass die politische Haltung der Arbeitsgruppe die Oberhand gewinnt und die Schweiz über eine Volksabstimmung, geführt von der rechtsnationalen SVP Hand in Hand mit den Gewerkschaftesverbänden, aus dem europäischen Rechtsraum ausscheidet.

Das würde nicht nur Handel und Wirtschaft betreffen. Sondern viele andere Bereiche, wie Sicherheit, Energie, Verkehr, Forschung und Bildung, etc.

Alternativen zum Bilateralismus

Der CH-Bilateralismus gilt bei der Mehrheit des Bundesrates und des Parlaments und bei den Wirtschaftsorganisationen als einzig mögliche Option für die Schweiz in Europa.

Mitglieder der Arbeitsgruppe erklären in ihrem NZZ-Artikel vom 22.05.24, es müsse über Alternativen nachgedacht werden, wenn die EU dem geforderten Opting-out und dem geforderten Ausschluss des EuGH nicht zustimme.

Die Schweiz könne „keinen Verträgen zustimmen, die den Geist einer Verabsolutierung des freien Binnenmarkts in sich tragen und fundamentale Grundsätze der Schweizer Staatsordnung, der Rechtsetzung und Rechtsprechung sowie der demokratischen Entscheidungsfindung missachten.“

Die Schweiz müsse über „eine alternative Zusammenarbeitsform“ nachdenken. Als einzige konkrete Alternative wird „ein weiterentwickeltes Freihandelsabkommen“ erwähnt.

Die Publikation von Felbermayr / Heiland / Mosler / Schaltegger, Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern, 2023, befürwortet ein neues EU/CH-Freihandelsabkommen analog CETA. Gleichzeitig sollen die bestehenden Bilateralen Verträge weitergeführt werden.

Mit einer solchen Lösung würden die Probleme des aktuellen Bilateralismus nicht aus der Welt geschafft, sondern eher noch verschärft.

Die Abhängigkeit der Schweiz vom europäischen Recht würde beträchtlich ausgebaut, ohne jede demokratische Beteiligung an der europäischen Gesetzgebung in den europäischen Institutionen.

Jedes Freihandelsabkommen ist ein Marktzugangsabkommen zum europäischen Binnenmarkt. Es ginge wieder um die Anerkennung der europäischen Binnenmarktregeln und der Kompetenzen des EuGH.

Ein „weiterentwickeltes Freihandelsabkommen“ ist keine Alternative zum Bilateralismus, sondern führt die Schweiz in dieselbe Sackgasse wie der Bilateralismus.

Widersprüche, Hilflosigkeit, Endzeitstimmung

Das „Narrativ“ der „Arbeitsgruppe fairer Bilateralismus“ wirft eine Schlaglicht auf die Widersprüche des Bilateralimus und die Hilflosigkeit der schweizer Politik aus der bilateralen Sackgasse herauszukommen.

Der Bundesrat leistet keine Hilfe. Die zuständigen Regierungsmitglieder, FDP-BR Cassis und SVP-BR Parmelin verzichten darauf, der schweizer Bevölkerung proaktiv die mit der EU vereinbarte Verhandlungsplattform für eine Fortführung des Bilateralismus (Common Understanding Paper CH/EU vom 27.10.23) zu erläutern.

Beide vermitteln der Bevölkerung das Bild einer EU, gegen die sich die Schweiz wehren muss. Die europäische Integration wird als negative Entwicklung dargestellt, der sich die Schweiz als Sonderfall – anders als alle andern Länder auf dem Kontinent - entziehen muss.

SVP-BR Parmelin lehnt entsprechend den Vorgaben seiner Partei die im Oktober 23 vereinbarte Verhandlungsplattform und jede Annäherung an die EU ab. FDP-BR Cassis lehnt die europäische Integration als Fehlentwicklung ab und hat sich mit einem möglichen Scheitern der Verhandlungen abgefunden.

Das „Narrativ“ der „Arbeitsgruppe fairer Bilateralismus“ vom Mai 2024 macht deutlich, dass ein Ausscheiden der Schweiz aus dem europäischen Rechtsraum durchaus wahrscheinlich ist. Endzeitstimmung ist angesagt.

26.05.2024

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