Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Bilaterale + CETA-FHA
Eine Studie von IWP Uni Luzern, WIFO Wien, IfW Kiel



Am 28. Februar 2023 publizierte das Institut für Schweizer Wirtschaftspolitik an der Universität Luzern (IWP), gemeinsam mit dem deutschen Institut für Weltwirtschaft Kiel (IfW) und dem österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung Wien (WIFO), eine Studie unter dem Titel

„Handelsbeziehungen zwischen der Schweiz und der EU: Quantitative Bewertung unterschiedlicher Szenarien der zukünftigen Zusammenarbeit“.


Die Autoren kommen zum Schluss, die Fortführung des Bilateralismus und ein neues Freihandelsabkommen entsprechend dem CETA-Abkommen EU/Kanada sei die beste Lösung für die Schweiz.


EU-Beitritt

Zunächst stellen die Autoren aber fest, dass ein EU-Beitritt wirtschaftlich für die Schweiz das beste Resultat liefern würde.

Sie rechnen aus, dass im Falle eines EU-Beitritts

  • die aggregierten Handelsströme der Schweiz um 21,6 Prozent bei den Exporten bzw. um 24,7 Prozent bei den Importen zunehmen würden.
  • Speziell die Exporte in die EU würden um 49,1 Prozent und die Importe aus den Mitgliedsländern um 38,9 Prozent steigen.
  • Die simulierte Wertschöpfung würde um 4 Prozent steigen, die Realeinkommen würden unter den Modellannahmen um 7,2 Prozent zulegen.

In der Rechnung sind die Nettobeitragszahlungen der Schweiz an den EU-Haushalt mitberücksichtigt. Von allen geprüften Szenarien liefert der EU-Beitritt ökonomisch weitaus das beste Ergebnis.

Freihandelsabkommen analog CETA
+ Bilateralismus

Wenn zwischen der Schweiz und der EU ein neues Freihandelsabkommen analog CETA abgeschlossen wird und gleichzeitig die bestehenden Bilateralen Verträge weitergeführt werden, was die Autoren befürworten, sieht ihre Rechnung folgt aus:

  • Die Exporte der Schweizer Wirtschaft in die Europäische Union würden um gut 19,5 Prozent steigen, der Zuwachs bei den Importen aus den europäischen Partnerländern beträgt 17 Prozent.
  • Der aggregierte Handel der Schweiz steigt um 8,3 Prozent für die Gesamtexporte und um 10 Prozent für die -importe. Die positiven Effekte für die Schweizer Volkswirtschaft sind bedeutend.
  • Die aggregierte Wertschöpfung in der Eidgenossenschaft würde verglichen mit dem Status Quo um 1,5 Prozent zulegen, die Realeinkommen gar um 2,4 Prozent steigen.

Die Autoren befürworten diese Lösung, trotz des deutlich schlechteren wirtschaftlichen Ergebnisses gegenüber der Beitritts-Option.

Schwexit

Schliesslich berechnen die Autoren die Auswirkungen bei einem Schwexit, also bei einem Wegfall des Freihandelsabkommens 1972 und der Bilateralen I und II.

Die Schweiz wäre dann im Verhältnis zur EU ein Drittstaat mit Handelsregeln nach WTO.

Das Ergebnis ist ernüchternd:

  • Die gesamten Schweizer Exporte würden verglichen mit dem Status Quo um 9,3 Prozent zurückgehen, die Importe gar um 11,2 Prozent.
  • Die Auswirkungen auf den Handel mit der Europäischen Union sind noch gravierender: Die Exporte würden sich um 19,4 Prozent reduzieren, bei den Importen stünde ein Minus von 18,1 Prozent.
  • Die Wertschöpfung der Schweiz würde sich um 1,6 Prozent reduzieren, das Realeinkommen der Schweizer sinkt gegenüber dem aktuellen Stand um 2,6 Prozent.

Der Schwexit ist die Lösung, welche die einheimischen Rechtsnationalen anstreben.

Weil nicht sein kann, was nicht sein darf

Weshalb lehnen die Autoren den EU-Beitritt trotz des wirtschaftlich besten Resultats ab?

Vermutlich unter Federführung des einheimischen Instituts für Schweizer Wirtschaftspolitik Luzern machen sie eine lange Liste exogener Nachteile aus, vor allem ideologischer Art.

Ein EU-Beitritt würde danach der Schweiz „hohe politische Harmonisierungskosten“ verursachen.

Genannt werden u.a. folgende politischen Nachteile:

  • Die Europäisierung gefährde die traditionelle Konsensdemokratie der Schweiz.
  • Schweizer Bürger seien jetzt politisch besser informiert als die Bewohner anderer europäischen Demokratien, was verloren ginge.
  • Die Übernahme von EU-Recht widerspreche der politischen Einstellung der Stimmbevölkerung.
  • Die nationale Identität und nationale Interessen seien gefährdet.
  • Die Präferenzen der Schweizer mit einem niedrigeren Bildungsabschluss würden missachtet.
  • Entscheidungskompetenzen in der Umwelt-, Klima, Arbeitsmarkt-, Sozial- und Landwirtschaftspolitik würden abgebaut.
  • Die Neutralität würde unterminiert.
  • Der Rückgriff würde auf informelle politische Netzwerke ausserhalb der EU-Institutionen eingeschränkt.
  • EU-Angehörigen müssten hinsichtlich Arbeitsbedingungen, Sozialversicherungen, Sozialleistungen, Steuervorteilen etc. dieselben Rechte gewährt werden wie Schweizern.
  • EU-Studenten und EU-Rentner müssten gleichbehandelt werden wie Schweizer.
  • Die öffentlichen Finanzen der Schweiz würden beeinträchtigt.
  • Wenig qualifizierte EU-Zuwanderer blieben in der Schweiz und kosteten den Fiskus Geld.
  • Finanzkräftige, besser qualifizierte EU-Bürger würden wieder auswandern und zahlten nichts mehr.
  • EU/EFTA-Ausländer zahlten heute schon weniger ALV-Beiträge ein, als sie Arbeitslosenentschädigungen bezögen.
  • EU/EFTA-Ausländer erhielten heute schon höhere KVG-Prämienverbilligungen als Schweizer.
  • EU/EFTA-Ausländer hätten heute schon eine höhere Sozialhilfequote als Schweizer.
  • Zuwanderung erhöhe heute schon den Preis von Einfamilienhäusern.
  • Zuwanderung steigere die Gesundheitsausgaben.

u.a.m.

Die Liste widerspiegelt die von den einheimischen Rechtsnationalen seit 30 Jahren ideologisch erfolgreich bewirtschafteten Vorurteile gegen einen EU-Beitritt.

Ausländer- und EU-Feindlichkeit gehen in allen Ländern Hand in Hand - auch in der Schweiz. Es sind die Standardargumente des völkischen Nationalismus mit einer langen Geschichte.

Ähnliches hörte man von den britischen Politikern Nigel Farage und Boris Johnson vor dem Brexit.

Seit dem Brexit geht es in UK nicht mehr um die Kosten der „EU-Harmonisierung“ und der Zugehörigkeit zum EU-Binnenmarkt.

Vielmehr geht es um die Kosten der EU-Entkopplung und Nichtzugehörigkeit zum EU-Binnenmarkt. In der aktuellen realen Welt Grossbritanniens findet sich reiches Anschauungsmaterial zur Kostenfrage.

Leider haben die Autoren auf eine Analyse der Brexit-Kosten verzichtet, obwohl es viele Parallelen zur Schweiz gibt.

Kosten des Bilateralismus

Schwerwiegender ist, dass die Autoren die bereits bestehenden Kosten des Bilateralimus ausser Acht lassen. An diesen Kosten ändert die Hinzufügung eines CETA-Freihandelsabkommens nichts.

Wegen der politischen Kosten des Bilateralismus haben die britischen Tories eine Lösung à la Suisse vehement abgelehnt. Sie betrachten den schweizerischen Bilateralismus, den die Autoren beibehalten wollen, als unwürdiges Vasallentum.

Ein Hauptziel des Brexit war die Umsetzung der Parole „Take back control“. „Take back control“ findet im Bilateralismus à la Suisse nicht statt, vielmehr „Give away control“.

Viele von den Autoren beklagten politischen Nachteile eines EU-Beitritts sind im Bilateralismus bereits Alltag und verschwinden nicht mit einem CETA. Das gilt vor allem für die Übernahme von EU-Recht und die daraus folgenden Konsequenzen.

Dass in Meinungsumfragen die Übernahme von EU-Recht abgelehnt wird, bedeutet nicht, dass die Rechtsübernahme nicht stattfindet.

Die Schweiz übernimmt in grossem Umfang laufend EU-Recht. Nur in den seltensten Fällen findet ein direktdemokratisches Verfahren unter Beteiligung der Stimmbürger statt.

Die Rechtsübernahme erfolgt standardmässig auf dem Verwaltungsweg von Schweizer Bundesbeamten in den Gemischten Ausschüssen auf Aufforderung durch EU-Beamte. Oder sie erfolgt im autonomen Nachvollzug, meist durch Verordnungen der Bundesverwaltung.

Die Öffentlichkeit nimmt von diesen Vorgängen kaum Kenntnis, obwohl sie den Alltag stark beeinflussen.

Personenfreizügigkeit im Bilateralismus

Einige der aufgezählten Nachteile eines EU-Beitritts haben mit der Personenfreizügigkeit zu tun. Gerade diese aber wollen die Autoren mit dem Bilateralismus beibehalten.

Die beklagten „Harmonisierungskosten“ der Personenfreizügigkeit für den Fiskus, die Sozialversicherungen, die Sozialhilfe etc. bleiben in ihrer Vision „Bilateralismus + CETA“ unverändert. Die Klagen sind daher obsolet.

Tatsächlich sind die ökonomischen Differenzkosten zwischen dem EU-Beitritt und dem bestehenden Bilateralismus zufolge der Personenfreizügigkeit marginal.

Rational können sie nicht gegen einen EU-Beitritt ins Feld geführt werden, solange man – wie die Autoren - für den Bilateralismus eintritt.

Demokratie im Bilateralismus

Auch die beklagten politischen Harmonisierungskosten schlagen nicht zu Gunsten des Bilateralismus aus.

Die Schweiz übernimmt im Bilateralismus europäisches Recht, ohne an der Gesetzgebung zum europäischen Recht beteiligt zu sein. Das hat nichts mit Demokratie und Souveränität zu tun.

Europäisches Recht, über das sie nie weder direkt noch repräsentativ abgestimmt haben, regelt den Alltag der Schweizer überall dort, wo sie als Konsumenten oder Produzenten von Waren, Dienstleistungen oder Kapitalien aktiv sind und auch dort, wo sie im Verkehr in der Schweiz und in Europa unterwegs sind.

Verursacht dieses europäische Recht für den Einzelnen Kosten? Ergeben sich für das Individuum nicht vielmehr Freiheiten und Vorteile, auch ökonomischer Art?

Weder „nationalen Interessen“, noch eine geltend gemachte „nationale Identität“ der Schweizer werden dadurch beeinträchtigt.

Im Gegenteil – Schweizer schätzen und nutzen die damit verbundenen persönlichen Freiheiten und Handlungsmöglichkeiten täglich.

Bilaterale + CETA : das Ei des Kolumbus ?

Nach Ansicht der Autoren hätte die Schweiz mit den Bilateralen Verträgen und einem CETA-Freihandelsabkommen (CETA-FHA) alle Vorteile des Zutritts zum europäischen Binnenmarkt, ohne die Pflicht, sich an das gemeinsame europäische Binnenmarktrecht zu halten.

Die Autoren meinen, ihr Vorschlag sei „souveränitätsschonend“.

Mit einem CETA-FHA würden vor allem im grenzüberschreitenden Dienstleistungsverkehr Hemmnisse abgebaut. EU und Schweiz würden sich gegenseitig verpflichten, die Dienstleistungsmärkte für Personen und Unternehmen zu öffnen.

In den Bereichen Landwirtschaft, Lebensmittel, Telekommunikation, IT, Chemie würden laut der Studie noch bestehende Hemmnisse im Warenverkehr abgebaut.

Das alles würde der Schweiz laut Studie „enorme Handels- und Wohlstandsgewinne“ bringen.

Vermeidung von Harmonisierungskosten ?

Die Autoren meinen, mit ihrem Vorschlag könnten Harmonisierungskosten vermieden werden.

Tatsächlich bleibt es bei den Harmonisierungskosten des Bilateralismus, die sich nur marginal von jenen eines EU-Beitritts unterscheiden.

Im Gegenteil: die beklagten angeblichen politischen „Harmonisierungskosten“ würden mit dem Einbezug der Dienstleistungen und der Landwirtschaft erheblich wachsen.

Die Schweiz muss in weiteren Bereichen die von den EU-Gremien ohne ihre Beteiligung erlassenen europäischen Gesetze einhalten.

Daran führt kein Weg vorbei, wie der Bundesrat in den siebenjährigen Verhandlungen mit der EU über ein Rahmenabkommen erfahren musste.

Weshalb die Autoren meinen, ihr Vorschlag sei „souveränitätsschonend“ ist schwer nachvollziehbar, sofern sie damit nicht nur an den vom Bundesrat praktizierten blossen Souveränitäts-Formalismus denken.

Abmarsch in den Schwexit ?

Mit seinem unilateralen Verhandlungsabbruch vom 26. Mai 2021 führte der Bundesrat das Land entsprechend der rechtsnationalen Weltanschauung einen grossen Schritt in Richtung Schwexit.

Die Regierung glaubt an einen nationalen schweizerischen Exzeptionalismus in Europa und der Welt, der von allen Ländern anerkannt und respektiert werden muss.

Ihre Haltung im Ukraine-Krieg hat das erneut bestätigt. Danach sind wir ein global auserwählter Sonderfall, der nach praktizierter Neutralitätsdoktrin totalitären Regimes und europäischen Demokratien in gleicher Weise zu Diensten stehen will und muss.

Kein Rettungsanker

Die Studie „Bilaterale + CETA“ ist kein Rettungsanker.

Die Abhängigkeit der Schweiz vom europäischen Recht würde beträchtlich ausgebaut, ohne demokratische Beteiligung der Schweiz an der europäischen Gesetzgebung in den europäischen Institutionen.

Dass die EU-Gremien mit der Schweiz eine Abkommen Bilaterale + CETA abschliessen würden, ohne die wirksame und gerichtlich durchsetzbare Einhaltung der gemeinsamen europäischen Gesetze zu verlangen, gehört ins Feld der Illusionen.

Warum sollten sich die dreissig europäischen Länder, die sich verpflichtet haben, die gemeinsamen europäischen Gesetze einzuhalten, dazu bereitfinden, der Schweiz die europäischen Vorteile einzuräumen, ohne die damit verbundenen Pflichten? Darauf gibt die Studie keine Antwort.

Es gibt auch keine Antwort.

05.03.2023

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