Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Vision : Schweiz in Europa
im Jahre 2028 - AVIS28



Das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat am 2. Juli 2019 der Öffentlichkeit den Bericht AVIS28 vorgestellt. AVIS28 ist eine EDA-Abkürzung für „Aussenpolitische Vision Schweiz 2028“.

Vision = Status quo

BR Cassis stellt in der Einleitung klar: „Bei der Europapolitik hat der Bundesrat seine Vision bereits dargelegt: Die Schweiz braucht den bestmöglichen Marktzugang zur EU bei grösstmöglicher Eigenständigkeit.

Der konsolidierte bilaterale Weg bleibt das geeignete Modell hierzu.“

Demensprechend enthält AVIS28 nichts Neues und insbesondere keine Visionen zur Europapolitik. Angeboten wird ein „Status quo plus – Modell“, d.h. Festhalten am helvetischen Bilateralismus, aber neu mit Rahmenabkommen.

Auch der Europäischen Union wünscht das EDA den Status quo: „Die Schweiz hat weder ein Interesse daran, dass sich die EU in Richtung eines europäischen Superstaats weiterentwickelt, noch daran, dass sie sich fragmentiert.“

Der Wunsch nach keiner Entwicklung in keiner Richtung entspricht dem aktuellen schweizerischen Mainstream innen- und aussenpolitisch, ist aber realitätsfern.

Die Europäische Union ist ein laufender Prozess, sowohl im Blick auf den Binnenmarkt, aber auch hinsichtlich der Sicherheits- und Migrationspolitik.

Trotz des Wunsches der Schweiz wird dieser Prozess nicht zum Stillstand kommen.

Keine EU-Mitgliedschaft

„Auch 2028 wird der EU-Beitritt nicht zur Debatte stehen.“ sagt das EDA.

Eine Prüfung aller europapolitischen Optionen – wie in früheren Berichten zum gleichen Thema - findet nicht mehr statt, insbesondere keine Analyse der Beitritts-Option im Vergleich zum Bilateralismus.

Nur keine Tabus aufbrechen. Das ist die aktuelle EDA-Strategie in AVIS28.

Also ein Denkverbot intern und extern, um jedem Konflikt mit den einheimischen Rechtsnationalen aus dem Weg zu gehen.

Keine Beteiligung an der Gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik

Dieselben Tabus gelten aus demselben Grund auch für die Sicherheitspolitik: Die Schweiz ist – nach Feststellung des EDA - das einzige Land im euro-atlantischen Raum, das systematisch keine EU-Positionen und Erklärungen aus der Gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik mitträgt.

Das soll laut EDA so bleiben, obwohl die Schweiz sicherheitspolitisch vollständig von der sie umgebenden EU abhängig ist.

Das EDA begründet seinen Standpunkt nicht. Wohl in der Meinung, dass es dafür – weil zum Tabu gehörig - keiner Begründung bedarf. Auch sicherheitspolitisch gilt amtlich ein Denkverbot.

Dabei stellen sich durchaus Fragen:

Welchen Nutzen bringt es der Schweiz, sich sicherheitspolitisch systematisch vom unmittelbaren europäischen Umfeld zu abzukapseln? Jedenfalls keinen Sicherheitsgewinn.

Nüchtern überlegt, jenseits des grassierenden Nationalismus, liegt auf der Hand, dass die Bewohner Europas nur dann Aussicht auf ein sicheres Leben auf ihrem Kontinent haben, wenn die Verteidigung gegen aussen von den europäischen Ländern gemeinsam organisiert wird.

Dieser banalen Erkenntnis verschliesst sich die Berner Politik, anders als alle andern europäischen Länder.

Der Rückzug Amerikas als Schutzmacht Europas müsste auch der Schweizer Regierung zu denken geben. US-Präsident Trump lässt seine Allianzpartner ohne Vorwarnung und ohne Wimpernzucken im Stich, wenn sie seine persönlichen Wünsche nicht erfüllen.

Braucht die nationale Identität der Schweiz – wie das EDA meint – nicht nur die Isolation der eigenen Sicherheitspolitik, sondern auch noch eine verbale systematische Distanzierung von der europäischen Sicherheitspolitik? Weil der Bundesrat auf Trump zählt?

SVP-BR Maurer eilte am 10. Mai 2019, einer Aufforderung Trumps folgend, nach Washington. Trump wollte durch Vermittlung der Schweizer Diplomatie mit dem Iraner Ayatolla Khamenei telefonieren. Maurer konnte den Auftrag nicht erfüllen. Er schrieb Trump ins Gästebuch: „Together ahead“. Meinte er damit sich selbst, die SVP oder gar - ungefragt - das ganze Schweizer Volk?

Man könnte in der bundesrätlichen Distanzierung von der gemeinsamen Verteidigung Europas auch ein Eingeständnis der Schwächen der eigenen „unabhängigen“ nationalen Verteidigung sehen. Nicht umsonst ringt der Bundesrat seit Jahren um die Glaubwürdigkeit der Miliz-Armee mit allgemeiner Wehrpflicht.

Niemand weiss – auch AVIS28 nicht -, was der verteidigungspolitische Auftrag ist, allein, inmitten der EU und ohne die militärischen Mittel, um Angriffe aus der Luft abzuwehren, wie sie beispielweise derzeit im Nahen Osten stattfinden oder auf dem Balkan in den neunziger Jahren stattgefunden haben.

Diese Positionierung ist dem Bundesrat nur möglich, weil er sich voll auf den Schutz der Schweiz durch die Gemeinsamen Europäischen Sicherheitspolitik verlässt, an der er sich aus ideologischen Gründen auf keinen Fall beteiligen will.

Rahmenvertrag als einzige Option

„Die Schweiz will ihren eigenständigen europapolitischen Weg beibehalten. Das Modell muss Errungenschaften des bilateralen Wegs bewahren und diesen zukunftsfähig ausgestalten.“ Sagt das EDA.

Mit „zukunftsfähig ausgestalten“ ist der Abschluss des im November 2018 vom EDA mit der EU vereinbarten Rahmenabkommens gemeint.

Dass das EDA mit der "Zukunftsfähigkeit" im Dezember 2018 bereits im Bundesrat scheiterte, wirft ein grelles Licht auf die Orientierungslosigkeit der Regierung in der derzeitigen Zusammensetzung.

Der Rahmenvertrag 2018 zementiert den Bilateralismus. Bilateralismus bedeutet Übernahme, aber keine Mitgestaltung des europäischen Rechts.

Was ist am Bilateralismus so attraktiv, dass er als einzige Option diskutiert werden darf?

Wahrscheinlich nur die Formel, weil sie in der Vergangenheit einige Volksabstimmungen überstanden hat und alle sich stereotyp darauf berufen.

Die Formel soll auch in Zukunft ihren Dienst tun, um die Angriffe der heimischen Rechtsnationalen, die immerhin einen Viertel der Sitze im Nationalrat belegen, zu parieren.

Das Konstrukt „Bilateralismus mit Rahmenabkommens“ ist kein zukunftsfähiges Konzept. Das europäische Recht wird für die Schweiz und ihre Bevölkerung immer bedeutender. Das gilt insbesondere für das Wirtschaftsrecht.

Nach dem Konstrukt „Bilateralismus mit Rahmenabkommen“ lehnt die Schweiz die Mitwirkung in den europäischen Institutionen ab, die europäisches Recht für den Binnenmarkt erlassen und anwenden.

Das sind: das Europäische Parlament, der Europäische Rat, die Europäische Kommission, der EuGH.

Anderseits nimmt die Übernahme europäischen Rechts laufend zu. Bei weitem nicht bloss aufgrund der Bilateralen Verträge, sondern immer mehr durch autonomen Nachvollzug, um die Äquivalenzanerkennung der EU zu erhalten.

Das Finanzmarktrecht, der Datenschutz, alle technischen Standards, der Konsumentenschutz, das Lebensmittelrecht, das Wettbewerbsrecht, das Heilmittelrecht sind nur einige Beispiele.

Oft findet die Übernahme auf dem Verwaltungsweg statt, ohne Parlament.

Das EDA spricht nicht mehr - wie früher – euphemistisch vom „Königsweg der Schweiz“, meint aber das Modell sei „zukunftsfähig“.

Eine realistische und objektive Analyse fehlt: AVIS28 bleibt den langjährigen politischen Tabus der schweizerischen Europapolitik verpflichtet.

Nicht evidenzbasiert, vielmehr Wunschdenken, ist die Aussage in AVIS28: „Die Schweiz gestaltet Europa auch als EU-Nichtmitglied partnerschaftlich mit.“

Wie soll das gehen, ausserhalb aller Gremien, die für die Gestaltung des europäischen Rechtsraumes zuständig sind.

Die Schweizer Staatsorgane sind – anders als die Staatsorgane von EU-Mitgliedländern - von jeder Mitgestaltung des europäischen Rechts, das die Schweiz übernimmt oder autonom nachvollzieht, ausgeschlossen.

Unter dem Blickwinkel der Souveränität ist die Situation absolut unbefriedigend und kein „zukunftsfähiges“ Konzept.

28 europäische Länder haben sich hinsichtlich des europäischen Rechts für eine geteilte Souveränität entschieden, was gegenüber dem Bilateralismus ohne Souveränität vorzuziehen ist. Mindestens sollte man im EDA darüber diskutieren dürfen.

Souveränität in der Schengen-Dublin-Assoziation?

Das EDA spricht in seinem Bericht viel von „Eigenständigkeit“ und „Souveränität“ der Schweiz gegenüber Europa.

Die Begriffe sollten an den seit 26. Oktober 2004 bestehenden Schengen-Dublin-Assoziationsabkommen auf ihre Substanz überprüft werden.

In AVIS28 sagt das EDA dazu lediglich: „Ohne ihre Assoziation an das Schengen-Dublin-Abkommen wäre die Schweiz bereits heute – technisch gesehen – auf einem Auge blind.“

Zu den institutionellen Konsequenzen dieser Abkommen, eben „Eigenständigkeit“ und „Souveränität“, herrscht Stillschweigen.

Die Abkommen regeln die laufende Übernahme des europäischen Rechts in wichtigen Politikbereichen durch die Schweiz: Grenzkontrollen, Polizei- und Justizzusammenarbeit und Migration.

Der Bundesrat darf laut den Abkommen im Gemischten Ausschuss EU/CH Anregungen machen.

Die EU-Kommission oder ein EU-Mitgliedstaat kann die Anregungen prüfen und entscheiden, ob sie diese in irgendeiner Form in das europäische Gesetzgebungsverfahren einbringen wollen.

Die Schweiz hat darauf keinen Rechtsanspruch. Am europäischen Gesetzgebungsverfahren zu Schengen-Dublin ist sie in keiner Weise beteiligt.

Die EU-Kommission hat konzediert, dass sie allenfalls auch Schweizer Experten anhört. Mit Souveränität und Demokratie hat das nichts zu tun.

Seit 2004 hat die Schweiz zu Schengen-Dublin laufend in grossem Umfang europäisches Recht übernommen: über 200 europäische Erlasse, die meisten auf dem Verwaltungsweg, mit ca. 15% befassten sich die eidgenössischen Räte.

Hätte die Schweiz in einem einzigen Fall die Rechtsübernahme abgelehnt, wäre das ganze Abkommen dahinfallen. Wo bleibt da die Souveränität?

Die Urteile des EuGH sind für die Anwendung des Schengen-Dublin-Rechts in der Schweiz massgebend. Der EuGH fällt verbindliche Vorabentscheide aufgrund entsprechender Anfragen von Gerichten aus EU-Mitgliedsländer.

Die Schweiz muss der EU jährlich einen Bericht vorlegen, wie ihre Verwaltungsbehörden und Gerichte das Schengen-Dublin-Recht anwenden und auslegen.

Stellt sich heraus, dass die Schweiz das europäische Recht nicht nach den Vorgaben des EuGH anwendet und daran nichts ändern will, fällt das Schengen-Dublin-Abkommen dahin.

Die „Souveränität“ und „Eigenständigkeit“ der Schweiz in Schengen-Dublin erschöpft sich in der jeweiligen Kritik der Bundesräte an Europa.

Die findet zuhanden der Innenpolitik, insbesondere der einheimischen Rechtsnationalen, in der Regel dann statt, wenn sie von den Brüsseler Tagungen im Gemischten Ministerausschuss in die Schweiz zurückkehren.

An der laufenden Übernahme des europäischen Rechts durch die Schweiz, ohne Mitbestimmung der Schweiz, ändert sich damit kein Jota.

Das müsste AVIS28 analysieren, bevor der Bilateralismus dem Schweizer Volk als Zukunftslösung präsentiert wird.

Widersprüche zum propagierten Bilateralismus

Aufschlussreich sind immerhin zahlreiche Feststellungen in AVIS28, die darauf hindeuten, dass es den EDA-Diplomaten selbst nicht mehr recht wohl ist mit dem propagierten Bilateralismus.

Aussagen in AVIS28, die eigentlich ein rationales Überdenken der Status-quo-Position auslösen und Denkverbote und Tabus aufbrechen sollten:

  • „Europa bleibt für Wohlstand und Sicherheit der Schweiz die Schlüsselregion.“
  • „Geographisch ist die Stabilität des europäischen Umfelds zentral für die Sicherheit der Schweiz. Die Schweiz konnte in den letzten Jahrzehnten von der stabilisierenden Wirkung, die von der NATO und der europäischen Einigung ausging, profitieren.“
  • „Die Schweiz ist wirtschaftlich und gesellschaftlich stärker mit den EU-Staaten verflochten als viele EU-Mitglieder.“
  • „Die nationale Gesetzgebung wird zunehmend um europäische und internationale Regulierungsformen erweitert.“
  • „Eine aktive Beteiligung an der Ausarbeitung von EU-Recht stärkt die Souveränität der Schweiz. Entsprechend sollte sie das Mitgestalten von Normen dem autonomen Nachvollzug vorziehen.“
  • „Die dynamische Übernahme von neuem EU-Recht im Geltungsbereich der Marktzugangsabkommen garantiert, dass die bestehenden Abkommen funktionsfähig bleiben.“
  • „EU-getriebene Lösungsansätze werden zunehmend wichtiger, von der Digitalisierung über die Energiewende bis zur Kulturförderung und Rüstungskooperation.“
  • „Ohne Allianzpartner kann ein Land wie die Schweiz im machtpolitischen Wettstreit leichter unter Druck geraten.“
  • „Die Schweiz ist für ihren Wohlstand, ihre Sicherheit und ihre Unabhängigkeit auf eine regelbasierte Ordnung angewiesen. Dazu zählt ein wirksamer Multilateralismus.“
  • „Die Entwicklungen auf dem europäischen Kontinent sind auch für die Sicherheit der Schweiz wichtig.“
  • „Innerhalb Europas wird die Polizei- und Justizzusammenarbeit wichtiger werden. Man wird gemeinsame asylpolitische Lösungen suchen.“
  • „Ein vereintes Europa könnte eine Weltmacht werden. Dies ist unter anderem das erklärte Ziel der Europäischen Union.“

Leider wird im EDA über die eigenen Feststellungen nicht nachgedacht. Sie bleiben als Widersprüche zum Status-quo im Raume stehen. Eine ernsthafte Analyse unterbleibt. Das lässt für die nächste Legislatur nichts Positives erwarten.

02.08.2019

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