Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Seit 2011 publiziert das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) Papiere über die aussenpolitische Strategie der Schweiz, so in den letzten Jahren:
Die Strategiepapiere enthalten weit gesteckte Ziele zur schweizer Aussenpolitik, gelegentlich verbunden mit Eigenlob und überzogenen Ansprüchen.
Beispielhaft ist der Satz:
„Die Schweiz positioniert sich als Land, das mit ihrer eigenständigen Aussenpolitik Europa und europäische Errungenschaften im weltpolitischen Gefüge stärkt, gute Beziehungen mit allen Weltregionen anstrebt, dem Völkerrecht verpflichtet ist und zu einer globalen Verständigung beiträgt.“
Ein Lob, wonach die schweizer Aussenpolitik „Europa und europäische Errungenschaften im weltpolitischen Gefüge stärkt“ müsste wohl von den Europäern kommen und nicht aus dem EDA.
Entsprechende Mitteilungen aus Europa sind indessen nicht bekannt.
Fakt ist, dass die SVP/FDP-Mehrheitskoalition der CH-Regierung die Europäische Union (EU) ablehnt. In der innenpolitischen Kommunikation stellt sie dementsprechend die EU seit Jahren als politischen Gegner oder Feind dar.
Das stärkt weder Europa, noch die europäischen Errungenschaften.
Auf eine nüchterne und objektive Stärke-Schwäche-Analyse der deklarierten aussenpolitischen Positionen wird verzichtet.
Das Papier hat den Sound eines SVP/FDP-Politprogramms und richtet sich an die Innenpolitik mit dem Ziel, den eigenen Anhängern die Schweiz – isoliert ausserhalb der Europäischen Union - als wichtigen Akteur in der Weltpolitik zu präsentieren.
Wiederholt wird das Mantra, die schweizer Aussenpolitik sei eigenständig und global ausgerichtet. Im Sinne der Universalität strebe sie grundsätzlich diplomatische Beziehungen mit allen Ländern der Welt an.
Die Strategie 2024 sagt sodann:
„Die Führung der Aussenpolitik liegt in der Kompetenz des Bundesrats. Das EDA ist das zuständige Departement.“
Kompetenz ist gekoppelt mit Verantwortung und Rechenschaftspflicht.
Ob Bundesrat und EDA die in den Vorgänger-Strategien seit 2011 gesetzten Ziele auf der Bühne der internationalen Politik erreicht haben, bleibt ungeprüft.
Vieles wird formelhaft fortgeschrieben und dem aktuellen rechtsnationalen Mainstream in der Regierung untergeordnet.
Kernauftrag der Aussenpolitik ist Interessenpolitik, sagt FDP-BR Cassis.
Nur: um wessen Interessen geht es? Im Bundesrat haben aussenpolitische Postulate aus dem rechtsnationalen Lager grosses Gewicht.
In der aktuellen Zusammensetzung der Regierung ändert sich daran nichts.
Die in der SVP/FDP-Mehrheitskoalition im Bundesrat dominierende rechtsnationale SVP lehnt die Europäische Union grundsätzlich ab und postuliert deren Auflösung. Europa soll nach der SVP zum System militärisch konkurrierender Nationalstaaten des 19. Jahrhunderts zurückkehren.
Liegt das im Interesse der Schweiz?
Die SVP-Ideologie deckt sich mit denjenigen anderer rechtsnationalen Parteien in Europa, wie AfD, FPÖ, Rassemblement nationale, Lega etc. Liegt die Ideologie der rechtsnationalen europäischen Parteien im Interesse der Schweiz?
In der vorherigen Strategie 2020 deklarierte das EDA mit Zustimmung des Bundesrates folgendes Ziel:
"Die Schweiz konsolidiert durch den Abschluss eines Institutionellen Abkommens den EU-Binnenmarktzugang sowie den bilateralen Weg insgesamt und ermöglicht dessen Weiterentwicklung durch den Abschluss neuer Marktzugangsabkommen."
Am 26. Mai 2021 lehnte der Bundesrat – entgegen seiner eigenen Strategie 2020 - das von CH- Staatssekretär Balzaretti im Auftrag des Bundesrates und von EU-Kommissar Hahn im Auftrag der EU- Kommission 2018 fertig ausgehandelte Institutionelle Abkommen ab.
FDP-BR Cassis sagte im Mai 2021 als EDA-Vorsteher nach Interventionen aus dem rechtsnationalen Lager, ein Institutionelles Abkommen 2.0 werde es nicht geben.
Im Widerspruch dazu teilte der Bundesrat am 8. November 2023 der EU-Kommissionspräsidentin mit, er sei mit dem Ergebnis der Sondierungsgespräche CH/EU (Common Understanding vom 27.10.23) einverstanden und werde gestützt darauf dem Parlament ein Verhandlungsmandat unterbreiten.
Das Common Understanding Paper vom 27.10.23 geht bezüglich der Übernahme von europäischem Recht durch die Schweiz über das abgelehnte Institutionelle Abkommen 2018 hinaus.
Diese Vorgänge werden im Strategiepapier 2024 nicht erläutert. Sie werden kaum erwähnt, obwohl es sich um die zentralen Ereignisse der bundesrätlichen Europapolitik der Periode 2020 – 2023 handelt.
Man erfährt nichts über die Hintergründe der sich widersprechenden Bundesratsbeschlüsse vom 26.05.21 und vom 08.11.23.
Im ersten Durchgang 2021 lehnte der Bundesrat die verbindliche dynamische Übernahme von europäischem Recht ohne schweizer Mitbestimmung ab. Im zweiten Durchgang 2023 stimmte er einer erweiterten dynamischen Übernahme von verbindlichem europäischem Recht, ohne Mitbestimmung der Schweiz, zu.
Der aussenpolitische Zick-Zack-Kurs dokumentiert Orientierungslosigkeit und Opportunismus.
Die Vorbereitung des Common Understanding Papers vom 27.10.23 von Seiten des EDA hätte Anlass sein können, das Dogma des schweizer Bilateralismus grundsätzlich zu hinterfragen.
Mit dem Bilateralismus wird laufend und zunehmend europäisches Recht in der Schweiz angewendet. Gleichzeitig lehnt das bundesrätliche Dogma jede Beteiligung der Schweiz an den multilateralen europäischen Gremien ab, die das für die Schweiz verbindliche europäische Recht erlassen und anwenden.
Für einen demokratischen Rechtsstaat ein unwürdiges aussenpolitisches Konzept. Es müsste in einem Strategiepapier hinterfragt werden. Alternativen müssten geprüft werden.
Dessen ungeachtet erklärt das EDA erneut, die Schweiz sei bestrebt, den bilateralen Weg mit der EU weiterzuentwickeln. Es gehe um die Aktualisierung bestehender Binnenmarktabkommen, den Abschluss neuer Abkommen und „die Lösung der institutionellen Fragen“.
Mit anderen Worten: die Schweiz wird nach dem Common Understanding vom 27.10.23 noch mehr europäisches Recht übernehmen, ohne sich an der europäischen Rechtsetzung, dem europäischen Rechtsvollzug und der europäischen Rechtsprechung zu beteiligen.
Jede kritische Auseinandersetzung mit dem aktuellen Stand des schweizer Bilateralismus unterbleibt. Immerhin wird der bilaterale Weg nicht mehr als „Königsweg der Schweiz“ bezeichnet wie in früheren Verlautbarungen des EDA, was als Positivum angerechnet werden kann.
Das Dogma des Bilateralismus in der Europapolitik steht in Kontrast zum Multilateralismus, den Bundesrat und EDA in der Strategie 2024 für unverzichtbar erklären:
„Ein wirksamer Multilateralismus ist für die Erarbeitung gemeinsamer Antworten auf die globalen Herausforderungen unverzichtbar.“
Und:
„Die Schweiz setzt sich für einen fokussierten Multilateralismus ein, der sich an der regelbasierten Ordnung, Subsidiarität und Kohärenz orientiert, damit er auch künftig handlungsfähig bleibt und zu einer sicheren Welt beiträgt.“
Die Europäische Union (EU) ist für die Schweiz die bei weitem die wichtigste multilaterale Organisation. Wesentlich wichtiger als UNO, WTO, WHO, OECD, OSZE, Europarat, Europäische Politische Gemeinschaft etc.
Die EU setzt u.a. den verbindlichen Rechtsrahmen für die schweizerische Wirtschafts-, Justiz-, Migrations- und Sicherheitspolitik.
An den massgebenden Gremien der für die Schweiz wichtigsten multilateralen Organisation wollen sich Bundesrat und EDA nicht beteiligen, obwohl beide den Multilateralismus für unverzichtbar halten. Eine bizarre Argumentation.
In der EU koordinieren die Mitgliedstaaten ihre nationalen Politiken multilateral auf der Grundlage von gemeinsamen, in demokratischen Verfahren erlassenen Regeln. Erst die regelbasierte Ordnung der EU gewährleistet Frieden, Sicherheit und Wohlstand in Europa und in der Schweiz.
Das anerkennt die Strategie 2024. Gleichzeitig hält sie aber am bundesrätlichen Dogma des Bilateralismus fest, das der Schweiz eine Beteiligung am europäischen Multilateralismus untersagt.
Faktisch verurteilt der Bundesrat die Schweiz mit dem Bilateralismus zur einseitigen dauerhaften Abhängigkeit von der EU. Er will der Schweiz trotz verbindlicher Übernahme des europäischen Rechts keine Mitbestimmungsrechte bezüglich der multilateralen regelbasierten europäischen Ordnung zugestehen.
Die Strategie 2024 behandelt die Neutralität im Kontext des Ukrainekrieges.
Sie stellt zutreffend fest, dass die bundesrätliche Neutralitätspolitik von den Europäern kaum mehr als Beitrag an die Stabilität auf dem Kontinent verstanden wird.
Schweizer Unternehmen verkaufen seit langem gegen gutes Geld Kriegsmaterial an EU-Mitgliedstaaten.
Nach Ausbruch des Ukrainekriegs verbot der Bundesrat unter Berufung auf die schweizer Neutralität den EU-Ländern, in der Schweiz gekaufte Waffen und Munition an die Ukraine weiterzugeben. Die Ukraine befindet sich seit Februar 2022 im Überlebenskampf gegen den militärischen Überfall des russischen Diktators Putin.
Die ukrainische Selbstverteidigung ist nach der UN-Charta völkerrechtlich legitimiert, der brutale militärische Angriff Putins nicht. Die Strategie 2024 macht geltend, die Schweiz sei dem Völkerrecht verpflichtet.
Im Fall Ukraine wollen Bundesrat und EDA diese Pflicht nicht gelten lassen, sondern isoliert unilateral ausserhalb der UN-Charta gegen die Interessen Europas handeln.
Sein rechtsnationales unilaterales legalistisches Neutralitätsverständnis stellt der Bundesrat über die UN-Charta und über die seit dem 2. Weltkrieg von allen europäischen Ländern völkerrechtlich praktizierte europäische Friedensordnung.
Der Bundesrat stellt sich faktisch auf die Seite Putins, der von den westlichen Ländern verlangt, jede Waffenhilfe an die Ukraine einzustellen, damit er das unverteidigte Land – wie 2014 im Fall der Krim - annektieren kann.
Die bundesrätliche „Neutralitätspolitik“ tut genau das, was Putin will. Sie unterstützt damit den Aggressor, was Kritik europäischer Regierungen auslöst.
Die Strategie 2024 meint dazu:
„Das Verständnis für die Neutralität der Schweiz hat in diesem Kontext bei einigen wichtigen westlichen Partnern abgenommen.“
„Europäische Partnerstaaten sehen in der Schweizer Praxis und Kriegsmaterialgesetzgebung eine Behinderung legitimer Hilfe für die Ukraine.“
„Die Neutralität der Schweiz kann dann Wirkung erzielen, wenn sie international verstanden und anerkannt sowie als nützlich betrachtet wird. Letzteres ist heute bei manchen europäischen Staaten, die ursprünglich den zentralen Referenzpunkt der Neutralität darstellten, kaum mehr der Fall.“
Der Bundesrat begründet sein Verbot mit dem Kriegsmaterialgesetz.
Die Regierung hätte nach dem Überfall Putins im Februar 2022 ohne weiteres eine Korrektur der entsprechenden Regeln vorlegen können, um eine schweizerische Unterstützung des Aggressors zu vermeiden. Das hat sie nicht getan. War es das Ziel des Bundesrates, den Diktator in Moskau nicht zu verärgern?
Der Rechtfertigungsversuch wird bei den Europäern kaum auf Verständnis stossen. Gerade jetzt, wo der Bundesrat laut Strategie 2024 eine aussen- und sicherheitspolitische Kooperation mit EU und NATO anstrebt.
Die Regierung handelt wie meist in der Europapolitik:
sie will die Vorteile des europäischen Binnenmarkts und die Vorteile der gemeinsamen europäischen Sicherheitspolitik in Anspruch nehmen, aber mit viel diplomatischem Einsatz die damit verbundenen Pflichten möglichst vermeiden.
Die Strategie 2024 formuliert sybillinisch zur Fortschreibung der bundesrätlichen Neutralitätspolitik:
„Die Neutralität schränkt zwar den Handlungsspielraum im militärischen Bereich ein. Aber sie erlaubt weitreichende Solidarität, wie sie im aussenpolitischen Profil zur Geltung kommt."
"Auch diese Solidarität ist fester Bestandteil des schweizerischen Rollenverständnisses in der Welt. Das Instrument der Neutralität lässt dabei Raum für eine kooperative Aussen- und Sicherheitspolitik mit europäischen und weiteren engen Partnern der Schweiz (Kap. 6.2). Diese will der Bundesrat in den kommenden Jahren ausbauen.“
Was Regierung und EDA mit diesen Sätzen über die Solidarität „im schweizerischen Rollenverständnis“ meinen, wird nicht weiter erläutert. Mit ihrem Beitrag an die Verteidigung Europas ist die Schweiz von jeder Solidarität weit entfernt. Ist das das schweizerische Rollenverständnis?
Nach dem Verbot des Bundesrates an die Europäer, in der Schweiz gekaufte Waffen und Munition den Ukrainer zur Verfügung zu stellen, besteht im Thema Solidarität Nachholbedarf. Mit verklausulierten schönen Worten ist es nicht getan, ausschlaggebend sind die Taten der Regierung.
Wird sich die schweizer Regierung bei künftigen hybriden oder direkten Angriffen Russlands oder anderer Regimes auf Europa solidarisch an der Verteidigung des Kontinents beteiligen?
Die Frage wird in der Strategie 2024 nicht beantwortet.
11.02.2024