Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Der ehemalige EDA-Staatssekretär ETHZ-Prof. Michael Ambühl (2005 – 2010 im Amt) postuliert seit vielen Jahren einen Ausbau der Schutzklausel gemäss Artikel 14 Absatz 2 des Freizügigkeitsabkommens (FZA).
Staatsekretär Ambühl war schweizer Verhandlungsführer für die Bilateralen Verträge II und im EDA-Team für die Bilateralen Verträge I.
In diesen Verhandlungen wurde der heute noch praktizierte schweizer Bilateralismus und die damit verbundene Übernahme von europäischem Recht ohne Teilnahme an den gesetzgebenden EU-Gremien konzipiert und installiert.
Letztmals hat ETHZ-Prof. Ambühl im September 2024 zusammen mit Dr. Daniela Scherer, Universität Genf, und Nora Meier, Managing Director ETHZ, eine Neufassung der FZA-Schutzklausel vorgeschlagen (Daniela S. Scherer / Nora Meier / Michael Ambühl, Konkretisierung der Schutzklausel in Art. 14(2) des Freizügigkeitsabkommen Schweiz – EU, in: Jusletter 16. September 2024).
Der geltende Artikel 14 Absatz 2 FAZ lautet seit Inkrafttreten des FAZ am 01.01.2002 wie folgt:
Bei schwerwiegenden wirtschaftlichen oder sozialen Problemen tritt der Gemischte Ausschuss auf Verlangen einer Vertragspartei zusammen, um geeignete Abhilfemassnahmen zu prüfen.
Der Gemischte Ausschuss kann innerhalb von 60 Tagen nach dem Antrag über die zu ergreifenden Massnahmen beschliessen.
Diese Frist kann der Gemischte Ausschuss verlängern. Diese Massnahmen sind in Umfang und Dauer auf das zur Abhilfe erforderliche Mindestmass zu beschränken.
Es sind solche Massnahmen zu wählen, die das Funktionieren dieses Abkommens so wenig wie möglich beeinträchtigen.
Der Artikel ist seit 2002 nie angewendet worden.
Ob schweizer Beamte im Gemischten Ausschuss je eine Anwendung des Artikels verlangt haben, ist nicht bekannt.
Auch ist nicht bekannt, ob schweizer Beamte je das Bestehen „schwerwiegender wirtschaftlicher oder sozialer Probleme“ - wie von einheimischen Rechtsnationalen behauptet – geltend gemacht haben.
Nicht bekannt ist, was sich schweizer Spitzenbeamte aus dem EDA und dem EVD als Schöpfer dieser Klausel bei Aushandlung der Bilateralen Verträge I vor 1999 darunter vorgestellt haben.
Vermutlich ging es damals darum – wie oft in der schweizer Europapolitik -, für die zu erwartende emotionale Volksabstimmung ein Argumentarium bereit zu stellen.
Der Artikel 14.2 FAZ hat aus Sicht von Prof. Ambühl, seinen Mitautorinnen sowie weiteren Verfechtern einer Schutzklausel zwei gravierende Mängel:
Spätestens seit Annahme der SVP-Masseneinwanderungsinitiative am 09.02.2014 wollen verschiedenen Politiker, auch der Bundesrat, und akademische Autoren die Indikatoren für die Auslösung mit zahlenmässigen Limiten konkretisieren, zB:
Bei Überschreiten der Limiten soll die Schweiz zeitlich befristet Abhilfemassnahmen unilateral ohne Zustimmung der EU treffen können.
Als Abhilfemassnahme käme auch eine unilateral angeordnete Kontingentierung in Betracht, wie sie gegenüber Nicht-EU-Länder gilt.
Das Ergreifen von unilateralen Abhilfemassnahmen soll den Binnenmarktzutritt der Schweiz nicht beeinträchtigen.
Prof. Ambühl und seine Mitautorinnen D. Scherer und N. Meier konzentrieren sich im September 2024 auf die Idee, die Schweiz solle mit der EU ein Recht aushandeln, zeitlich befristete Massnahmen zu ergreifen, wenn die Nettozuwanderung in der Schweiz signifikant über dem Durchschnitt der EU/EFTA-Staaten liegt und dadurch wirtschaftliche oder soziale Probleme zu erwarten sind.
Die Definition von «signifikant» soll auf statistischen Methoden basieren.
Bereits 2016 verlangte der Bundesrat von der EU, sie müsse eine bestimmte quantitative Grösse der Zuwanderung von EU-Bürgern in die Schweiz als „schwerwiegendes wirtschaftliches oder soziales Problem“ der Schweiz anerkennen.
Er hatte bereits einen entsprechenden Text für das schweizer Ausländergesetz vorbereitet.
Nach dem Entwurf eines Artikel 17c des Ausländergesetze wollte der Bundesrat einen Schwellenwert, unter Berücksichtigung völkerrechtlicher Verpflichtungen, festlegen. Das Modell hatte intern und extern keinen Erfolg und wurde nicht realisiert.
Im Januar 2016 hat der damalige Präsident der EU-Kommission den Bundesrat im Kontext der Umsetzung der Masseneinwanderungsinitiative ausserdem wissen lassen, eine Anwendung von Artikel 14 Absatz 2 PFZA ohne Zustimmung der EU falle ausser Betracht.
Das aktuelle Verhandlungsmandat des Bundesrates vom 8. März 2024 sieht aufgrund von Forderungen aus dem Parlament vor, es sei eine Konkretisierung der Schutzklausel in Artikel 14 Absatz 2 FZA zu prüfen.
Das aktuelle Verhandlungsmandat des EU-Rats an die EU-Kommission vom 12.03.2024 sieht in der Änderung von Artikel 14 Absatz 2 FAZ keinen Verhandlungsgegenstand.
Auch das Common Understanding Paper vom 27.10.2023, das der Bundesrat und die EU-Kommission, vertreten durch EDA-Staatssekretärin Livia Leu und Maroš Šefčovič, Vizepräsident der EU-Kommission, gemeinsam genehmigt haben, sieht keine Änderung der Schutzklausel vor.
Die Diskussion über eine Schutzklausel wird in der Schweiz seit mehr als acht Jahren geführt. Ein konkretes Ergebnis hat sich nie ergeben.
Die Medien haben die Interventionen aus der Academia mehrfach positiv aufgenommen.
Die Pressepublikationen weckten bei einem Teil des Parlaments und der schweizer Bevölkerung die Erwartung, die unliebsame Zuwanderung von EU-Arbeitskräften könne mit einer solchen Schutzklausel endlich unterbunden werden.
Der Ausbau der Schutzklausel im Sinne des Models Ambühl wird vor allem von Politikern und Wirtschaftsleuten (Gantner, Bärtsch) aus dem rechtsnationalen Spektrum begrüsst.
Dieser Personenkreis lehnt die europäische Integration für die Schweiz und Europa grundsätzlich ab.
Für schweizer Unternehmer existiert keine Vorschrift, weder im europäischen Recht, noch im schweizer Recht, wonach sie Arbeitskräfte aus der EU rekrutieren sollen.
Sie tun dies aus eigenem Geschäftsinteresse, weil sie so qualifizierte Fachkräfte zu vorteilhaften Lohnbedingungen anstellen können.
Ursache der EU-Zuwanderung sind Unternehmerentscheide. Will man die Zuwanderung wirksam reduzieren, müsste man mit Abhilfemassnahmen dort ansetzen.
Statt Wirtschafts- und Standortförderung müssten Bund, Kantone und Gemeinden Wirtschaftsbehinderung betreiben.
Die einfachste Abhilfemassnahme wären Steuererhöhungen. Die Politik macht das Gegenteil.
Sie senkt die Steuer in Relation zum Umland und arbeitet mit Steuerprivilegien. Das lockt internationale Konzerne in die Schweiz.
Diese rekrutieren in der EU Arbeitskräfte.
Auch der starke Zuzug von Oligarchen aus allen Herren Länder zwecks Steuerminimierung löst Zuwanderung aus.
Die Auswirkungen einer langjährigen Steuersenkungs- und Steuerprivilegienpolitik auf Gesellschaft und Landschaft von Kleinstaaten kann in Kantonen wie Zug, Basel, Nidwalden und in Ländern wie Liechtenstein, Monaco, Malta etc. besichtigt werden.
Gefördert wird die Zuwanderung von EU-Arbeitskräften durch die Aufwertungspolitik der Nationalbank. Sie bewirkt laufend Lohnerhöhungen in Relation zu den Nachbarstaaten.
Das erleichtert den schweizer Unternehmern die Rekrutierung in der EU.
Abhilfemassnahmen an den Ursachen der Zuwanderung sind unpopulär. Sie scheiden daher in der Realpolitik aus.
Ökonomisches Wachstum bleibt angesagt. Die Zuwanderung von EU-Arbeitskräften und ihres Konsums in der Schweiz ist eine Hauptstütze des schweizer Volkseinkommens. Typisches Beispiel ist die Bauwirtschaft.
Mit der Diskriminierung von EU-Arbeitnehmern mittels Schutzklauseln und Lohnkontrollen setzt die Politik auf Symptombekämpfung und stösst damit emotional auf breite Zustimmung. Die Wirkung ist minimal.
Selbstverständlich stünde es der Schweiz frei, als Abhilfemassnahme die bilateralen Verträge zu kündigen und auf den Zutritt zum europäischen Binnenmarkt zu verzichten. Damit käme die Zuwanderung von EU-Arbeitskräften schlagartig zum Erliegen, wie der Brexit in UK bewiesen hat.
Wenn die Zuwanderung von EU-Arbeitskräften tatsächlich ein existenzielles Problem für die Schweiz ist, wie die einheimischen Rechtsnationalen seit 30 Jahren beklagen, wäre dies der richtige Schritt.
Die Mehrheit der Bevölkerung sieht kein existenzielles Problem. Sie hat am 27.09.2020 eine SVP-Kündigungsinitiative mit 61% abgelehnt.
Die Personenfreizügigkeit gehört zu den vier Grundfreiheiten des EU-Vertrags.
Es ist nicht leicht einzusehen, weshalb die EU allein dem assoziierten Land Schweiz gestatten sollte, davon abzuweichen und trotzdem den Binnenmarktzutritt zu behalten. Ein Recht, das keinem EU-Mitgliedstaat zusteht.
Nicht nur die EU-Kommission müsste damit einverstanden sein. Auch der EU-Rat, das EU-Parlament und der EuGH müssten zustimmen.
Die schweizer Verfechter der Schutzklausel sind der Ansicht, die EU sei an einer solchen Lösung interessiert.
Einige meinen, die EU sollte sie in Abweichung vom EU-Vertrag für alle Binnenmarktstaaten einführen. So könnte einer generell migrations- und ausländerfeindlichen Stimmung in Europa Rechnung getragen werden.
Durch eine solche Korrektur des EU-Vertrags würde der Nationalismus in Europa einen kräftigen Schub erhalten. Die EU wurde nach zwei Weltkriegen mit Millionen Toten gegründet, um einen Rückfall in den mörderischen Nationalismus des 19./20. Jahrhunderts auf dem Kontinent zu verhindern.
Ob die EU-Kommission dennoch, ohne Mandat, in den laufenden Verhandlungen auf eine neue Schutzklausel gemäss einem der diskutierten Modelle einsteigt, bleibt abzuwarten.
Nach den bisherigen Erfahrungen wird es dem schweizer Chef-Verhandler, stv. Staatssekretär Franzen, nicht leicht fallen, das steuerlich breit geförderte Wachstum der schweizer Arbeitsplätze als „schwerwiegendes wirtschaftliches oder soziales Problem“ darzustellen.
Ein „Problem“, das die Schweiz mit einem Abbau der steuerlichen Unternehmens-Förderung, ohne Änderung der Schutzklausel, selbst lösen könnte.
26.09.2024