Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Alexander Hamilton,
Europa und Schweiz



Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) begründete ihre Zustimmung zu gemeinsamen EU-Anleihen und zum innereuropäischen Finanzausgleich aufgrund der Corona-Krise wie folgt:

“Europa muss gemeinsam handeln, der Nationalstaat allein hat keine Zukunft. Deutschland geht es nur dann gut, wenn es Europa gut geht – das ist absolut klar.

Das gilt für den Frieden in Europa, genauso wie für die Wirtschaft und unseren Wohlstand.“

Über Jahre hatte sich Deutschland gegen EU-Anleihen und einen EU-internen Finanzausgleich gesperrt.

Der Beschluss des
Europäischen Rates
vom 20. Juli 2020

Frau Merkel kam jetzt zur Überzeugung, dass ein Bankrott der schwer vom Virus getroffenen Südländer den Zusammenbruch der Europäischen Union und im Gefolge auch einen Bankrott Deutschlands zur Folge hätte.

Im Vorfeld des Europäischen Rates vom 20. Juli 2020 sprach der deutsche Vizekanzler und Finanzminister Scholz (SPD) vom Hamilton-Moment der Europäischen Union.

Er hatte mit dem französischen Präsidenten Macron den deutsch-französischen Vorschlag für die Ratssitzung vorbereitet.

Nach 4 Tagen und 4 Nächten einigten sich die EU-Staatschefs auf das EU-Budget 2021 - 2027 und den gemeinsamen Corona-Wiederaufbaufonds.

Die EU ist ermächtigt, für den Wiederaufbaufonds EU-Anleihen auf den Finanzmärkten aufzunehmen.

Frau Merkel als EU-Ratspräsidentin hat Vorbildliches geleistet.

Die Existenz von EU-Anleihen bedeutet auch, dass die Europäische Zentralbank – analog der US Federal Reserve – EU-Anleihen aufkaufen kann.

Ein Ausfall der Anleihen ist - anders als bei Euro-Anleihen der Mitgliedstaaten, aber analog den US-Treasury-Bonds – praktisch ausgeschlossen.

Die Anleihen sind mündelsicher.

Die EU erhöht deutlich ihr wirtschafts- und finanzpolitisches Potential. Der Euro macht sich auf den Weg, zum US-Dollar aufzuschliessen.

Was machte Alexander Hamilton?

Alexander Hamilton, erster Finanzminister der USA, hatte 1790 die Schulden der amerikanischen Einzelstaaten aus dem Unabhängigkeitskrieg zu Bundesschulden erklärt

Erst mit der gemeinsamen Finanzierung konnte der Bundesstaat USA funktionieren.

Wahrscheinlich wären die Europäer mit der gemeinsamen Finanzierung des EU-Wiederaufbaufonds über die Finanzmärkte gescheitert, hätte der nationalistische britische Premierminister Johnson an der Beschlussfassung vom 20. Juli 2020 mitgewirkt.

Der Austritt Grossbritanniens aus der EU am 31. Januar 2020 war ein Übel, aber vielleicht ein notwendiges, um dem europäischen Kontinent für Frieden, Freiheit und Wohlstand eine Zukunft zu ermöglichen.

Auch US-Präsident Trump und der russische Präsident Putin werden keine Freude am europäischen Beschluss gehabt haben.

In ihren Machtspielen ist beiden Europa ein ungeliebter Konkurrent und Spielverderber, den sie vom globalen Feld vertreiben möchten.

Das ginge dann am besten, wenn sich die Europäer wieder bekriegen würden. Schliesslich gilt: America/Russia first und Make Russia/America Great Again.

Beide machen sich über die aufwändigen demokratischen Prozesse in der Europäischen Union lustig. Sie glauben an die persönliche, autoritäre Alleinherrschaft.

Beide sympathisieren mit den rechtsnationalen Parteien in Europa und fördern diese über verschiedene Kanäle, um die EU zu schwächen.

2019 erklärte der rechtsextreme Trump-Berater Bannon in einem NZZ-Interview unwidersprochen, er wolle mit Hilfe der rechtsnationalen Parteien die Europawahlen zu einem Stalingrad für die EU machen.

Und die Schweiz?

Was sagt der Bundesrat zum Beschluss des Europäischen Rates?

Soweit ersichtlich, hat sich die Landesregierung nicht geäussert.

Ihre zahlreichen Medienmitteilungen seit dem 20. Juli 20 befassen sich mit wichtigeren Dingen wie Feuerwerkskörper, Babynahrung, Offiziersbeförderungen, Fitness, Parkplätzen, Tierversuchen, Blumentöpfen etc.

Die Entwicklung in Europa steht nicht auf der schweizer Tagesordnung, zumal Sommerferien sind.

Informationen über das Geschehen in der EU stehen seit Liquidation des Integrationsbüro EDA/WBF 2012 nicht mehr im Programm der schweizer Regierung. Mit der Liquidation entsprach die Regierung einer Forderung der rechtsnationalen SVP.

Staatssekretärin Hirayama aus dem SVP-Bildungs-Departement WBF wohnte am 21. Juli 20 als Beobachterin einem EU-Ministertreffen Forschung und Innovation bei

Sie erklärte den EU-Ministern die Schweizer Sicht:

Die grenzüberschreitende Zusammenarbeit und die Erleichterung des Austauschs unter Forschenden seien Schlüsselfaktoren für gemeinsame europäische Reaktionen auf Krisensituationen.

Ein offener und vernetzter europäischer Forschungsraum spiele eine wichtige Rolle bei der Bewältigung von Krisen.

Die Schweiz sei entschlossen, ihren Beitrag dazu zu leisten.

Irgendwie passt das nicht mit dem gegenwärtigen rechtsnationalen Mainstream in der SVP/FDP-Koalition des Bundesrats zusammen.

Die Ablehnung jeder schweizerischen Mitbestimmung in den EU-Gremien gehört zu den wichtigsten Glaubenssätzen der bundesrätlichen SVP/FDP-Koalition.

Die Regierung will sich an den Gremien, die über die europäische Bildungs- und Forschungspolitik entscheiden, auf keinen Fall beteiligen. Das wäre nach ihrer Ideologie gegen die schweizer Souveränität und Neutralität.

Und Beiträge, sei es mit Personal oder Geld, will man möglichst auch keine leisten, sicher nicht freiwillig und nur, wenn es nicht mehr anders geht.

Neue Politik?

Sind die Erklärungen der Beobachterin und Staatssekretärin Hirayama auf europäischer Ebene ein Anzeichen für ein Aufweichen der anti-europäischen Politik der bundesrätlichen SVP/FDP-Koalition?

Haben sich etwa die Mehrheitsverhältnisse im Bundesrat vorübergehend verschoben, unbemerkt von der Öffentlichkeit?

Die einheimischen Rechtsnationalen haben immer noch keinen Nachfolger für SVP-Präsident SVP-NR Rösti gefunden. Mag sein, dass ihre beiden Exponenten in der Regierung, SVP-BR Maurer und SVP-BR Parmelin, auf Direktiven aus der SVP-Parteizentrale warten.

SVP-aBR Blocher, der normalerweise den SVP-Kurs bestimmt, ist mit sich selbst beschäftigt. Er will vom ungeliebten Staat eine Bundesratsrente in Höhe von 2.7 Mio. CHF nachbeziehen. Eine Rente, auf die er im November 2009 öffentlich verzichtet hat.

Wenn der Führer ausfällt, gibt es keine europapolitische Erleuchtung für die Partei und ihre Regierungsmitglieder.

Unter solchen Umständen muss für die SVP-Bundesräte die schweizer Europapolitik vorübergehend zum Nebenkriegsschauplatz werden.

Und die anderen Regierungsparteien?

Sie warten auf die SVP-Vorgaben und wollen sich auf keinen Fall als Pro-Europäer bei den einheimischen Rechtsnationalen unbeliebt machen.

Wann geht es der Schweiz gut?

Nicht nur Deutschland, sondern auch der Schweiz geht es nur gut, wenn es Europa gut geht. Das ist meine Meinung.

Ich schliesse mich da Frau Merkel an. Die Schweiz müsste in den europäischen Gremien konstruktiv mitwirken und dort die eigenen Zukunft mitgestalten.

Der Mainstream in Bern und in den CH-Medien sieht das allerdings ganz anders: der Schweiz geht es gut, wenn es der Europäischen Union schlecht geht.

Nach wie vor wetten die jetzt bestimmenden Politiker darauf, dass die EU über kurz oder lang untergeht und das für die Zukunft der Schweiz gut ist.

Die einheimischen Rechtsnationalen wünschen sich den Nationalismus des 19./20. Jahrhunderts zurück. Die NZZ empört sich über die Schuldenunion.

Ein Hamilton-Moment ist von der aktuellen Regierung nicht zu erwarten.

Eisern hält sie am schweizer Bilateralismus fest: laufende Übernahme des europäischen Rechts JA, Mitgestalten des europäischen Rechts in den europäischen Gremien NEIN.

25.07.2020

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