Ansichten
zu Politik und Recht
Eugen David
Unter Mitarbeit von Ellen Sutter, hat Prof. Matthias Oesch, Universität Zürich, in 2. Auflage 2025 sein Standardwerk „Schweiz – Europäische Union Grundlagen Bilaterale Abkommen Autonomer Nachvollzug“ publiziert.
Das Werk gibt einen ausgezeichneten und detaillierten Einblick in das schweizer Konzept des Bilateralismus. Es kommt zur rechten Zeit.
Der Bundesrat präsentierte am 20. Dezember 2024 neue Verträge mit der EU: die Bilateralen III.
Die Regierung ist nach wie vor der Ansicht, der Bilateralismus sei langfristig die massgeschneiderte Lösung für die Stellung der Schweiz in Europa.
Das Wissen der schweizer Öffentlichkeit, der Medien und der Politik über die Realitäten und Konsequenzen des Bilateralismus bewegt sich auf einem tiefen Niveau. Falsche Vorstellungen sind an der Tagesordnung.
Nicht zu Unrecht ist in Medien die Rede von der «bilateralen Lebenslüge».
2012 haben SP-BR Calmy Rey, EDA-Vorsteherin, und FDP-BR Schneider-Ammann, EVD-Vorsteher, das gemeinsame, 1961 von BGB-BR Friedrich Traugott Wahlen gegründete Integrationsbüro EDA-EVD aufgelöst.
Während über 50 Jahren hatte das Integrationsbüro Behörden, Politik, Medien und Öffentlichkeit sachlich über die europäische Integration informiert.
Hintergrund der Auflösung war, neben Querelen über die Verteilung von Ämtern auf die Departemente, die langjährige Forderung der einheimischen Rechtsnationalen, die Informationen des Bundes über die europäische Integration einzustellen.
Seither existiert diese Information nicht mehr. Die Kommunikation aus WBF (ehemals EVD) und EDA basiert auf der ideologischen Ablehnung der europäischen Integration durch die aktuelle Regierung.
Das Buch von Prof. Oesch kann mit seiner objektiven, wissenschaftlichen Aufarbeitung des Bilateralismus viele Wissenslücken schliessen.
Die Schweiz ist eine Enklave der EU. Die Öffentlichkeit ist auf eine sachliche und fundierte Information über das sie umgebende europäische Gebilde und den Bilateralismus angewiesen.
Über die Fakten des Bilateralismus wird kaum gesprochen. Die SVP dominiert mit rechtsnationaler Polemik die Kommunikation zur Europapolitik. Die Mehrheit in Bundesrat und Parlament folgt der Anti-Europa-Ideologie.
Die beiden Regierungsmitglieder aus der SVP, BR Parmelin und BR Rösti, lehnen die alten und die neuen bilateralen Verträge mit der EU ab. Sie folgen den Vorgaben des Führers der SVP, aBR Blocher.
Er lehnt eine Verständigung mit der EU ab. Mit den Führerinnen und Führern anderer rechtsnationaler Parteien predigt er das Ende der europäischen Integration.
Präsident NR Dettling, Fraktionspräsident NR Aeschi, aPräsident SR Chiesa, NR Grüter und NR Martullo-Blocher, demonstrierten deswegen vor der versammelten SVP-Fraktion am frühen Morgen des 20.12.24 mit einer Hellebarde und Grablichtern auf dem Bundesplatz.
Die Damen und Herren aus dem rechtsnationalen Lager hielten frierend und mit leidender Miene eine Mahnwache gegen die EU und den geplanten „Unterwerfungsvertrag“ ab.
Sie protestierten gegen den Besuch der EU-Kommissionspräsidentin vom gleichen Tag beim Bundesrat zum Abschluss der Verhandlungen.
Die offenbar vom Berner Gemeinderat bewilligte Demonstration mit Waffe haben die Medien mit Bild und Text im Land verbreitet, was Ziel der Inszenierung war. Für den Kampf gegen Europa ist es den Rechtsnationalen nie zu kalt.
SVP-Präsident NR Dettling, SVP-Fraktionspräsident NR Aeschi, SVP-aPräsident SR Chiesa, SVP-NR Grüter und SVP-NR Martullo-Blocher demonstrierten deswegen mit der SVP-Fraktion im Hintergrund am frühen Morgen des 20.12.24 mit einer Hellebarde und Grabkerzen auf dem Bundesplatz.
Die Damen und Herren aus dem rechtsnationalen Lager hielten frierend und mit leidender Miene eine Mahnwache gegen die EU und den geplanten „Unterwerfungsvertrag“ ab.
Die offenbar vom Berner Stadtrat bewilligte Demonstration mit Waffe vor dem Heiligtum der Eidgenossenschaft haben die Medien mit Bild und Text getreulich im ganzen Land verbreitet, was Ziel der Inszenierung war. Für den Kampf gegen Europa ist es den Rechtsnationalen nie zu kalt.
Bedroht von Hellebarde und Grablichtern fehlt den übrigen Regierungsmitgliedern und den anderen Parteien jeder politische Wille, sich mit den Realitäten und Konsequenzen des Bilateralismus auseinander zu setzen.
Der Bilateralismus ist der Strohhalm, an dem sie sich festklammern, um der rechtsnationalen Bedrohung zu entgehen.
Schliesslich – so wiederholt der Bundesrat - haben die Stimmberechtigten dem Bilateralismus trotz den Drohungen der SVP mehrfach zugestimmt.
Das trifft auch zu.
Prof. Oesch erwähnt die Referendumsabstimmungen (S. 35 RZ 51) über
Solange diese politische Konstellation andauert, ist eine Diskussion über den Bilateralismus und seine Konsequenzen nicht möglich.
Der Bundesrat hat vor 15 Jahre den EU-Beitritt als politische Option gestrichen. Eine rationale Analyse der beiden Optionen Bilateralismus und EU-Beitritt findet seither nicht mehr statt.
Die 2017/2018 gewählte SVP/FDP-Regierungskoalition sieht sich in einem dauernden Abwehrkampf gegen die europäische Integration. In dieser Stimmungslage hat sie am 26. Mai 2021 die achtjährigen Verhandlungen mit der EU-Kommission abgebrochen.
Im Zentrum des Werks von Prof. Oesch steht die Feststellung, dass der Bilateralismus zu einer weitgehenden Integration der Schweiz in das Recht der EU geführt hat. Die Schweiz ist, nach den Worten von Prof. Cottier, heute ein zugewandter Ort der EU.
Die Übernahme des europäischen Rechts erfolgt im Bilateralismus nicht nur über die Bilateralen Verträge I, II und demnächst III.
Eine gewichtige Rolle spielt der autonome Nachvollzug des europäischen Rechts durch die nationale Gesetzgebung und die indirekte Anwendung des europäischen Rechts durch Behörden und Gerichte. Prof. Oesch zeichnet diese Entwicklung im Detail mit zahlreichen Beispielen nach.
Laut Prof. Oesch gibt es bis heute «kein Urteil, in dem das Bundesgericht oder das Bundesverwaltungsgericht ausdrücklich von einem Präjudiz des EuGH abgewichen wären» (S.205 A. 312).
Autonom ist der Nachvollzug in der Praxis nur formal.
Die Schweiz muss das europäische Recht ausserhalb der Bilateralen Verträge nachvollziehen. Nur dann kann sie damit rechnen, dass die Europäische Kommission den schweizer Regeln Äquivalenz bescheinigt und der Zutritt zum europäischen Binnenmarkt gewährleistet bleibt.
Ein Rechtsanspruch auf Anerkennung der Äquivalenz schweizer Gesetze durch die EU existiert im autonomen Nachvollzug nicht.
Die Option, auf den Zugang zum europäischen Binnenmarkt zu verzichten, hat die Schweiz als Enklave der EU nicht mehr. Die einheimischen Rechtsnationalen – die massgeblich die Regierungspolitik bestimmen – sehen dies allerdings anders. Sie wünschen und erwarten den Kollaps der EU und die Rückkehr Europas zum Nationalismus des 19. Jahrhunderts.
Der Bundesrat kommuniziert, der Bilateralismus gewährleiste der Schweiz den grösstmöglichen Handlungsspielraum.
Die Geschichte seit 1999, wie sie das Buch von Prof. Oesch nachzeichnet, zeigt ein anderes Bild. Der nationale Handlungsspielraum wird immer kleiner und reduziert sich mit den geplanten Bilateralen III nochmals deutlich.
Als Nichtmitglied gewinnt die Schweiz gewinnt zur Kompensation des Verlusts keine Hand-lungsoptionen auf europäischer Ebene. Insbesondere bleibt sie im Bilateralismus von den gesetzgebenden, rechtsprechenden und exekutiven Institutionen Europas ausgeschlossen.
Der Bundesrat lehnt im Sinne der rechtsnationalen Ideologie jede Beteiligung der Schweiz an den europäischen Institutionen ab.
Prof. Oesch verweist darauf, dass sich Experten aus der Schweiz in Arbeitsgruppen, Ausschüssen und weiteren Netzwerken mit Angehörigen der EU-Verwaltung und der Verwaltungen der EU-Mitgliedstaaten austauschen können.
Ein Vorgang der begrüssenswert ist, aber nichts mit demokratischer und rechtsstaatlicher Mitgestaltung des in der Schweiz angewendeten europäischen Rechts zu tun hat.
Die Fachleute werden von der EU-Kommission nach EU-Prioritäten ausgewählt, ohne Mitbestimmung der Schweiz. Es sind keine Delegierten der Schweiz. Sie haben im decision shaping keine schweizer Interessen zu vertreten, sondern ihre Fachkunde einzubringen.
Gerne erwähnt der Bundesrat in seiner Kommunikation neben dem decision shaping die EFTA-EU-Delegation der eidgenössischen Räte. In der Meinung, mit dieser Delegation finde seitens der Schweiz eine Einflussnahme auf die Meinungsbildung im EU-Parlament statt.
Er tut dies auch jetzt wieder im Kontext der von ihm geplante Verträge Bilaterale III.
Die EFTA-EU-Delegation kann indessen lediglich informelle Kontakte zu jener Kommission des EU-Parlaments pflegen, die für die Kontaktpflege zu den Parlamenten europäischer Länder ausserhalb der EU zuständig ist.
Konkrete Ergebnisse zur Gestaltung des Verhältnisses Schweiz-EU gibt es am jährlichen interparlamentarischen Treffen nicht. In der Regel beteiligen sich nur 4 - 5 Mitglieder der zuständigen EU-Parlamentskommission an diesen Gesprächen, was auf eine bescheidene Relevanz im EU-Parlament schliessen lässt.
Die EU teilt der Schweiz auf Beamtenebene in den Gemischten Ausschüssen mit, welche EU-Regeln sie zu übernehmen hat. Die Rechtsübernahme erfolgt auf dem Verwaltungsweg, in der Regel ohne demokratische Mitwirkung.
Das Parlament hat keinen Zugang zu den Gemischten Ausschüssen. Dort werden die allermeisten relevanten EU-Entscheide im Verhältnis Schweiz-EU umgesetzt.
Nach Artikel 2 des EU-Vertrags (EUV) ist das Rechtsstaatsprinzip Teil des Primärrechts der Europäischen Union. Nach der Rechtsprechung des EuGH geht das Primärrecht den von der EU mit der Schweiz abgeschlossenen Bilateralen Verträgen vor.
Bestimmungen der Bilateralen Verträge, welche die Rechtsstaatlichkeit verletzen, können vom EuGH als nicht anwendbar erklärt werden. Alle EU-Organe haben sich daran zu halten.
Das Prinzip der Unparteilichkeit von Gerichten und Behörden ist Teil der Rechtsstaatlichkeit. Die Übergabe von gewerbepolizeilichen Kompetenzen an Verbände der schweizer Konkurrenten von EU-Handwerksbetrieben, die in der Schweiz Aufträge ausführen wollen, verletzt das Prinzip der Unparteilichkeit und damit die Rechtsstaatlichkeit.
Dementsprechend ist nicht ausgeschlossen, dass der EuGH die entsprechenden Bestimmungen der Bilateralen III für nicht anwendbar erklärt.
Die Bemühungen des Bundesrates zugunsten der Gewerkschaften mit nationalem Recht dem europäischen Rechtsstaatsprinzip entgegen zu treten, werden kaum von Erfolg gekrönt sein. Da hilft auch das geplante Schiedsgericht nicht.
Die Europäisierung des schweizer Rechts durch die Bilateralen Verträge und den autonomen Nachvollzug hat Auswirkungen auf das System der direkten Demokratie.
Aus Sicht von Prof. Oesch sind Urnengänge, bei denen europapolitische Sachzwänge eine vorbestimmte Stimmabgabe nahelegen, eine unvermeidliche Folge (S. 41/42 A. 58). Das gehört nach seiner Ansicht zum Preis, den die Schweiz dafür bezahlt, von den Segnungen der europäischen Integration zu profitieren.
Das System der direkten Demokratie in der Schweiz müsse in der Lage sein, die aufgezeigten Spannungen auszuhalten.
Die Umsetzung europäischer Richtlinien in nationales Recht eröffnet den Mitgliedstaaten auf nationaler Ebene durchaus Handlungsoptionen, die ausgeschöpft werden. Nach dem Subsidiaritätsprinzip des Lissaboner Vertrags haben die nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten im Vorfeld der europäischen Gesetzgebung ein gesetzlich geregeltes Interventionsrecht.
Solche Rechte stehen dem schweizer Parlament im Bilateralimus nicht zu.
In der Schweiz wird es zunehmend zu Alles-oder-Nichts-Abstimmungen kommen.
Die Regierung tendiert dahin, ihre Vorlagen zur Umsetzung des übernommenen Europarechts der Bevölkerung wegen Europa als unabänderlich zu präsentieren, obwohl oft in der nationalen Gesetzgebung ein Handlungsspielraum besteht.
Eine Erklärung, weshalb die SVP/FDP-Regierung eine Beteiligung der Schweiz an den gesetzgebenden europäischen Institutionen ablehnt, gleichzeitig aber im Bilateralismus laufend europäische Gesetze übernehmen will, gibt es nicht. Aus der Regierung nicht und aus dem Parlament nicht.
Dass diese Haltung in der Bevölkerung das Klima gegenüber Europa vergiftet, nimmt die Regierung in Kauf.
Nach Ansicht von Prof. Oesch (S. 292 A. 437) hat die Schweiz «die Rechtsetzung in relevanten Bereichen faktisch an die EU delegiert. Für den autonomen Nachvollzug schätzen Studien, dass zwischen 40 % und 60 % der Bundesgesetzgebung direkt oder indirekt vom EU-Recht beeinflusst sind.»
Der Schlussbemerkung von Prof. Oesch kann man sich nur anschliessen (S. 296 A. 442):
«Letztlich ist das Schicksal der Schweiz wirtschaftlich, politisch, gesellschaftlich, kulturell und wissenschaftlich unweigerlich mit demjenigen ihrer Nachbarn und weiterer Staaten in Europa verbunden.
Die aktive Mitgestaltung der Zukunft im Verbund mit gleichgesinnten Staaten liegt im ureigenen Interesse der Schweiz.
Politische Klugheit und Weitsicht gebieten, auch die Option eines EU-Beitritts zu prüfen – mit Blick auf den mit einem Beitritt einhergehenden Demokratie- und Souveränitätsgewinn ein unter Umständen lohnenswertes Unterfangen.»
Leider wird er bei der aktuellen Regierung mehrheitlich kaum Gehör finden. Sie lehnt die europäische Integration ab, für die Schweiz und für Europa.
10.02.2025