Ansichten
zu Politik und Recht

Eugen David

Symptome des scheiternden Bilateralismus

Im Vorfeld der Wahlen 2015 lautet die Devise des Bundesrates und der Mitte-Rechts-Parteien, ausgenommen die Rechtsnationalen: Bilateralismus Ja, EU-Beitritt Nein. Über Inhalt und Konsequenzen des Bilateralismus findet keine rationale Debatte statt. Der Bilateralismus wird von der Politik nach wie vor als schweizerischer Königsweg propagiert.

Konzept des Bilateralismus

Das schweizerische Konzept des Bilateralismus beinhaltet eine laufende Übernahme von EU-Binnenmarktrecht, ohne an der Rechtsetzung des EU-Binnenmarktrechts beteiligt zu sein. Den Vorteil dieses Ansatzes sehen die Befürworter im Umstand, dass in den Bilateralen Verträgen selektiv die Rechtsgebiete bestimmt werden könnten, in welchen das EU-Recht übernommen wird.

Im Bereich der Personenfreizügigkeit hat die Schweiz das EU-Binnenmarktrecht übernommen. EU-Bürger haben das Recht, sich in der Schweiz aufzuhalten und hier eine Erwerbstätigkeit auszuüben. Schweizer haben das Recht, sich in der EU aufzuhalten und dort eine Erwerbstätigkeit auszuüben. In der Schweiz geltend dieselben EU-Regeln wie in einem EU-Mitgliedstaat.

Die Regeln in diesem Bereich wurden und werden durch die gesetzgebenden EU-Gremien (EU-Rat und EU-Parlament) festgelegt. Als Nichtmitglied der EU konnte die Schweiz in der Vergangenheit bei der Rechtsetzung nicht mitwirken und sie kann es auch in der Zukunft nicht.

Bilateralismus und Binnenmarktregeln

Die Masseneinwanderungsinitiative will die übernommenen EU-Binnenmarktregeln im Bereich der Personenfreizügigkeit ändern.

Neu sollen für EU-Bürger Zuwanderungskontigente gelten und die Schweizer sollen am inländischen Arbeitsmarkt gesetzlich privilegiert werden. Beide Änderungen stehen in offenem Widerspruch zum Recht der EU-Bürger, sich in der Schweiz aufzuhalten und hier – ohne Diskriminierung - eine Erwerbstätigkeit auszuüben.

Die Verfechter des Bilateralismus unterstreichen, dass die Schweiz mit dem Bilateralismus ihre Souveränität behalten habe und im Bilateralismus das Volk über die in der Schweiz geltenden Regeln abschliessend bestimmen könne.

Diese Ansicht trifft nur zu, soweit es um die Frage der Teilnahme am EU-Binnenmarkt geht. Die Schweiz kann jederzeit frei entscheiden, ob sie am EU-Binnenmarkt partizipieren will oder nicht.

Die Ansicht trifft jedoch nicht zu, soweit es um die einzelnen Binnenmarktregeln geht. Wenn die Schweiz partizipieren will, muss sie – als Nichtmitgliedstaat – wie jeder EU-Mitgliedstaat die von den EU-Gremien erlassenen Binnenmarktregeln tel quel übernehmen. Darüber kann im Inland nicht abgestimmt werden.

In diesem Punkt liegt die grosse Schwäche des Bilateralismus. Die Schweiz ist in keiner Weise an der Rechtsetzung der EU-Binnenmarktregeln beteiligt, übernimmt aber das Recht. Da das EU-Binnenmarktrecht laufend zunimmt und sich die Schweiz selbst an neuen Bereichen beteiligen will (Energiemarkt, Finanzdienstleistungsmarkt etc.) werden die Nachteile immer gravierender.

Optionen im Bilateralismus

Die Masseneinwanderungsinitiative bringt das Problem auf den Tisch, obwohl dies sicher nicht in der Absicht der Initianten lag.

Will die Schweiz einzelne Binnenmarktregeln nicht oder nicht mehr akzeptieren, lassen die Bilateralen drei Optionen offen:

    1. Die Schweiz kann die Bilateralen kündigen und den EU-Binnenmarkt verlassen.
    2. Die Schweiz kann die Bilateralen Verträge durch inländisches Recht brechen und damit die Kündigung durch die EU auslösen, was für die Schweiz auch zum Ausscheiden aus dem EU-Binnenmarkt führt.
    3. Die Schweiz kann die gesetzgebenden EU-Gremien (EU-Rat und EU-Parlament) bitten, für sie eine Ausnahmeregelung vom EU-Binnenmarktrecht zu erlassen.

Alle drei Optionen sind wenig attraktiv. Die Optionen Eins und Zwei sind mit hohen Risiken für Freiheit und Wohlstand in der Schweiz verbunden, die Option Drei kommt souveränitätspolitisch einem Kniefall gleich und hat - trotzdem - wenig Erfolgsaussichten.

Demokratie und Binnenmarktregeln

Statt dem Schweizer Volk darzulegen, dass nur über die Beteiligung am Binnenmarkt als solche, nicht aber über einzelnen Binnenmarktregeln abgestimmt werden kann, haben Bundesrat und Parlament die Initiative zugelassen und beim Stimmbürger – wie eh und je in der innenpolitischen Propaganda für die Bilateralen - den Eindruck erweckt, er könne direktdemokratisch über einzelne Binnenmarktregeln abstimmen. Dies in der Hoffnung, das Volk werde die Initiative ablehnen.

Dabei ist in der schweizerischen Demokratie keineswegs unbekannt, dass nicht über alles abgestimmt werden kann. In Gemeinden kann nicht über die Abänderung von Kantons- und Bundesrecht, in Kantonen nicht über die Abänderung von Bundesrecht abgestimmt werden. Ebenso kann im Bund nicht über die Änderung von EU-Binnenmarktrecht abgestimmt werden, solange die Schweiz am EU-Binnenmarkt partizipiert.

Verhandeln: worüber und mit wem?

Da der Bundesrat Freiheit und Wohlstand in der Schweiz nicht gefährden will, hat er nach dem Erfolg der Masseneinwanderungsinitiative an der Urne die Option Drei gewählt und im Juli 2014 die EU um Verhandlungen über Ausnahmen von den Binnenmarktregeln zur Personenfreizügigkeit gebeten.

Mit formellem Beschluss vom 19. Dezember 2014 hat der zuständige EU-Rat zur Bitte der Schweiz um eine Ausnahme vom Binnenmarktrecht Stellung genommen.

Er weist darauf hin, dass das Verhältnis EU-Schweiz nur „on a basis which fully respects the legal principles of the Single Market“ erfolgen könne. „The council reaffirms that by participating in parts of the EU‘s internal market and policies, Switzerland is not only engaging in a bilateral relation but becomes a participant in a multilaterale project.”

“A precondition for further developing a bilateral approach remains the establishment of a common institutional framework for existing and future agreements through which Switzerland participates in the EU’ internal market, in order to ensure homogeneity and legal certainity in the internal market.”

Zum Personenfreizügigkeitsabkommen (PFZA) insbesondere sagt der EU-Rat:”the council reconfirms the negative reply in July 2014 to the Swiss request to renegotiate the Agreement. It considers that the free movement of persons is a fundamental pillar of EU policy and that the internal market and its four freedoms are indivisible.”

In dieser letzten offiziellen Erklärung – eine neuere existiert nicht - kommt das Scheitern des Bilateralismus, so wie ihn die offizielle Schweiz innenpolitisch propagiert, zum Ausdruck:

Solange die Schweiz am EU-Binnenmarkt partizipieren will, muss sie die von den EU-Gremien erlassenen Binnenmarktregeln akzeptieren und das muss institutionell abgesichert werden. Die EU lehnt es ab, die EU-Personenfreizügigkeitsregeln für die Schweiz durch Ausnahmen zu durchbrechen. Die EU-Kommission hat dementsprechend bis heute kein Mandat, um mit der Schweiz über das PFZA zu verhandeln.

In der Schweiz blieb die Stellungnahme des EU-Rats, weil sie unerwünscht war, praktisch ohne Echo.

Bilateralismus funktioniert nicht im multilateralen Rechtsraum

Ausserhalb des Bundeshauses ist auch nicht leicht einsehbar, weshalb eine multilaterale Institution wie die EU einem Nicht-Mitgliedstaat Privilegien einräumen soll, die sie den Mitgliedstaaten nicht gewähren kann.

Der EU-Binnenmarkt hat für die Beteiligten viele Vorteile. Er hat aber auch einige, vor allem souveränitäts- und demokratiepolitische Nachteile. Die schweizerische Position, wonach man zwar die Vorteile in Anspruch nehmen, die Nachteile aber von sich weisen möchte, dürfte bei den übrigen Beteiligten, die auch von erheblichen Nachteilen betroffen sind, wenig Begeisterung auslösen. Der Fall Griechenland ist hier exemplarisch.

Völlig unterschätzt werden in der Schweiz die Mechanismen für eine Abänderung des PFZA. Selbst wenn die EU-Kommission – entgegen den bisherigen Verlautbarungen des EU-Rats - ein Mandat zu Verhandlungen über das PFZA erhielte, zustimmen müssten zum Verhandlungsergebnis der EU-Rat, das EU-Parlament und alle Mitgliedstaaten. Vor allem das EU-Parlament und alle EU-Mitgliedstaaten wären ausserordentlich hohe Hürden.

Neue Vision des Bundesrates im Sommer 2015 vor den Wahlen: "Paketlösung" mit „Chefunterhändler“

Der Bundesrat sagte im Juli 2015, er strebe eine „Paketlösung“ unter dem vielversprechenden Namen Bilaterale III an. Dafür ernannte er Anfang August 2015 einen "Chefunterhändler". Dass die EU-Kommission kein Mandat hat, über das PFZA zu verhandeln, bleibt in der bundesrätlichen Verlautbarungen ohne Erwähnung. Die inländischen Öffentlichkeit wird im Glauben belassen, im Bilateralismus sei alles verhandelbar.

Die Begriffe "Paketlösung" und "Chefunterhändler" sind bezüglich der Problemlage [fehlendes Mandat der EU-Kommission zur Verhandlung des PFZA] inhaltsleer, suggerieren aber innenpolitisch den allseits erwünschten Befreiungsschlag.

Das vernebelte Faktum bleibt: im multilateralen System des EU-Binnenmarkts ist nur der Beitritt (als Mitglied oder als Assoziierter) verhandelbar, nicht aber die Binnenmarktregeln. Diese werden von den EU-Gremien verbindlich für alle Beteiligten festgelegt. Mit dem Bilateralismus hat sich die Schweiz freiwillig dafür ausgesprochen, sich an der Rechtssetzung im Binnenmarkt nicht zu beteiligen. Sie will nur die Regeln übernehmen.

Die „Paketlösung“ kann daher nur die Übernahme von weiterem, nicht-verhandelbarem EU-Binnenmarktrecht durch die Schweiz beinhalten, sei es in einzelnen Politikbereichen (wie Energie, Finanzdienstleistungen, Unternehmensbesteuerung, automatischer Informationsaustausch, EU-Forschungsprogramme, EU-Kohäsionsbeiträge etc.), sei es – entsprechend der Forderung der EU - im institutionellen Bereich zwecks Gewährleistung der Anwendung des EU-Rechts in der Schweiz.

Die Vision „Paketlösung“ mit „Chefunterhändler“ wurde vom Bundesrat wohl gewählt, um das fehlende Verhandlungsmandat auf Seiten der EU-Kommission im Bereich des PFZA vor den Wahlen nicht thematisieren zu müssen. Das Medienecho auf die Ernennung des Chefunterhändlers zeigt, dass zumindest dieses Ziel erreicht worden ist.

Fatale Perspektive

Der Bundesrat will die Schweiz mit den Bilateralen III noch enger an die EU-Binnenmarktregeln anbinden und gleichzeitig mit dem System Bilateralismus ausschliessen, dass sie sich an der Rechtsetzung des EU-Binnenmarktrechts beteiligt. Eine Zielsetzung, die gerade nach den Erfahrungen mit der Masseneinwanderungsinitiative souveränitäts- und demokratiepolitisch fragwürdig ist.

Kurzfristig mag sich die Fortsetzung der Politik des gescheiterten Bilateralismus zur Vermeidung eines Machtzuwachses der Rechtsnationalen im Parlament in den Wahlen 2015 auszahlen, längerfristig treibt sie die Schweiz in eine fatale Sackgasse.

 

12.09.2015

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